Einleitung. §. 1. Einfluss der Psalmen auf die Liturgie der christlichen Kirche. Der Einfluss der Psalmen auf die Entwicklung der Liturgie im allgemeinen*) wie auf die christliche Liturgie im besonderen ist des öfteren behandelt worden, abschliessende Arbeiten sind jedoch bisher nicht veröffentlicht worden, weil eine solche Arbeit ein ganzes Menschenleben auszufüllen im Stande ist. Kein Geringerer als J. G. von Herder schreibt im Entwurf seines heute noch klassischen Werkes: „Vom Geist der ebräischen Poesie" (Ausgewählte Werke in einem Bande, Stuttgart 1844, p. 400 b) wie folgt: „Einige Abhandlungen zum Ende des Buches untersuchen die Geschichte der Behandlung dieser Poesien von Juden und anderen Völkern; das verschiedene Glück der Nachahmungen derselben zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Sprachen, endlich was das Phänomenon und das Resultat dieser Schriften und ihres Geistes in der ganzen uns bekannten Geschichte der Cultur und ihrer Wiederveränderungen sein möchte." Leider aber ist dieses Vorhaben Herder's ein pium desiderium gewesen und geblieben. Franz Delitzsch sagt über den Einfluss der Psalmen auf die christliche Liturgik (Herzog's Real-Encyclopädie für protestantische Theologie und Kirche Leipzig 1883 s. v. Psalmen p. 324): „Die Geschichte der Psalmodie und überhaupt der praktischen Verwen *) Der Einfluss der Psalmen auf die jüdische Liturgie ist aus den üblichen Gebetbüchern zu ersehen; es gibt aber überdiess ein Buch an auf das wir am Schlusse unserer Einleitung noch zurückkommen werden. Vergleiche übrigens unsere Einleitung zu B. Singer's Beiträgen zur Geschichte der Musik Heft I. und II. Prag 1887. 4 dung des Psalters ist eine glorreiche Segens- und Siegesgeschichte. Es gibt kein alttestamentliches Buch, welches sich so ganz und gar aus Herz und Mund Israels in Herz und Mund der Kirche übererbt hätte, wie dieses alttestamentliche Gesangbuch ohne Gleichen. Grätz' Monatsschrift (1886 p. 113) in dem Aufsatze: „Ein Wort über das jüdische Gebet" sagt: „Psalmen bilden daher noch jetzt einen bedeutenden Bestandtheil des synagogalen Gottesdienstes, indem sie die Tefilla einzuleiten und zu schliessen pflegen . . Die Psalmen ragen bis in die frühesten Tage hinauf und bildeten, von den Leviten unter Begleitung von Instrumentalmusik in Chören gesungen, einen nicht unwesentlichen Bestandtheil des Opferrituals. Die anwesende Gemeinde betheiligte sich insofern daran, als sie bei jedem Absatze, bei jeder Pause, wobei der Trompetenschall ertönte, auf die Kniee fiel." Und in demselben Aufsatze p. 120 heisst es: „Dass der christliche Gottesdienst ursprünglich dem synagogalen entlehnt und nachgebildet wurde, und der Ursprung für die Synagoge somit zugleich der Ursprung für die Kirche ist, darf als bekannt und im Gange der Geschichte als begründet vorausgesetzt werden." Diese 3 Zeugnisse könnten von unzähligen jüdischen und christlichen Forschern bestätigt werden, da aber an der Wahrheit des Einflusses der Psalmen auf die Liturgie nicht gezweifelt wird, genügen die 3 angeführten Aussprüche. Soweit dem Schreiber dieses Versuches bekannt ist, haben 2 Benedictiner-Mönche es unternommen, von Psalm zu Psalm die Beziehungen zur katholischen Liturgie und theilweise zur Hymnologie nachzuweisen Es sind dies 1) der Benedictiner-Abt Dr. Maurus Wolter in seinem Werke: „Psallite sapienter. Psallite weise." Erklärung der Psalmen im Geiste des betrachtenden Gebetes und der Liturgie, und 2) Le R. P. Emmanuel, des Bénédictins de Notre-Dame de la Sainte Espérance, in seinem Werke: " Nouvel essai sur les psaumes étudiés au triple point de vue, de la lettre, de l'esprit et des applications liturgi ques." Mesniel-Saint-Loup (Aube). Chez les Pères Bénedictins. 8. Décembre 1869. Merkwürdiger Weise erschien auch Dr. M. Wolter's Arbeit „Psallite sapienter“ in demselben Jahre 1869 in der Herder'schen Verlagsbuchhandlung in Freiburg (Breisgau). Während aber das französische Buch alle 150 Psalmen behandelt, sind dem Schreiber dieses nur die ersten 71 Capitel der Psalmen von Dr. Wolter's Buch vor Augen gewesen. In beiden angeführten Werken spielt die Liturgie nur eine Nebenrolle, da sie an letzter Stelle angeführt wird. Wolter's Buch ist mehr im Geiste des betrachtenden Gebetes", während Emanuel den textkritischen Standpunkt in erster, den Sinn des Psalmes und dessen Beziehung auf die christliche Religion in zweiter und an dritter Stelle erst die Liturgie berücksichtigt. Deshalb ist auch nichts vollständiges erzielt worden, selbst in Bezug auf das Missale Romanum. " §. 2. Begriff der Liturgie. Liturgie (atovoría) bezeichnet ursprünglich gewisse öffentliche Dienste, welche die atheniensischen Bürger persönlich und unter Bestreitung der damit verbundenen Kosten verrichteten. Ausserordentliche Dienstleistungen, zu welchen freie Städte, civitates foederatae, namentlich zu Lieferungen gegen Entschädigung verpflichtet waren, hiessen officia oder wie Strabo 8. B. p. 365 sagt qilmai Leitovoyiai, namentlich gehört hieher der Verkauf von Getreide (frumentum emptum), wie er in Halesae und Centuripae in Sicilien vorkommt. Cic. accus. in Verr. 3, 73, 4, 9, 20. Römische Staatsverwaltung von J. Marquardt I3, p. 79, Anmk. 3. In der christlichen Religion bezeichnet Liturgie zunächst den Gottesdienst im weitesten Sinn.1) Wie bei den Juden, so ist auch bei den Christen im Laufe der Jahrhunderte die Liturgie vielfach verändert und in's unendliche erweitert worden, so dass überall sich 1) Der Sinn von eurovoyia kann also kein anderer sein als immolatio und consecratio, wie es in den lateinischen Messen heisst. Man übersetzt ɛtovoyíc auch durch officium (Mone lat. und griech. essen aus dem II. bis IV. Jhdt. Fkft. a/M. 1850 p. 62), das Bedürfniss geltend macht, eine Revision der Liturgie vorzunehmen. Dass die Liturgie nicht ausschliesslich aus Gesängen, sondern auch aus belehrenden Theilen, deren Grundstock auch in der christlichen Kirche zunächst das Alte Testament bildete,2) bestand, darf füglich als bekannt vorausgesetzt worden. Die Liturgie besteht vorzugsweise aus den Worten der heil. Schrift als den Worten Gottes, sagt Lüft im 2. Bande seiner Liturgik (p. 204). Es wäre somit das ganze Alte Testament zu untersuchen gewesen, um den Einfluss desselben auf die Liturgie der christlichen Völker nachzuweisen, da auch viele gesang liche Elemente den übrigen Prophetenbüchern, besonders den 5 Büchern Mosis und dem Propheten Jesaja, Habakuk, Daniel und anderen entlehnt sind. Indem wri diese Arbeit einer späteren Zeit vorbehalten, wollen wir den Psalmen und deren Beziehungen zur christlichen Liturgie unser Augenmerk zuwenden und hier ganz besonders der katholischen und vorzugsweise der römischkatholischen. Der apostolische Stuhl theilt die ganze Liturgie in 2 grosse Hälften, in den Ritus der orientalischen und den der lateinischen Kirche ein. Zur orientalischen Kirche gehören 4 Ritus: der Griechische, Armenische, Syrische und Koptische. Der Ritus der lateinischen Kirche umfasst den Römischen, Ambrosianischen, Mozarabischen und verschiedene besondere Ritus einiger Orden. Jedoch ist diese Eintheilung erst eine späte; wie weit von einer Liturgie in den ersten 3 Jahrhunderten die Rede sein kann, hat Ferdinand Probst in seinem Buche: Liturgie der 3 ersten christlichen Jahrhunderte" (Tübingen 1870) und F. J. Mone in seinem Buche: Lateinische und griechische Messen" nachgewiesen. Letzterer sagt: In der Art und Weise, wie sich die römische Liturgie im heutigen Missale verkörpert hat, wurde sie in den ersten 3 Jahrhunderten in der ewigen Stadt nicht " 2) Mone lat. und griech. Messen p. 9: Es gab also im 1. Jahrhundert nur eine Lection, die aus dem A. T. besteht. |