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Erster Teil.

Die Entstehung des belgischen Staates.

Erster Abschnitt.

Die Ausschliessung der holländischen Staatsgewalt vom belgischen Land und Volk.

Als Voraussetzung für die Bildung eines neuen Staates auf einem Gebiete, welches zu einem bestehenden Staate gehört, ergibt sich zunächst mit Notwendigkeit der Ausschluss der bisherigen Staatsgewalt von dem Gebiete, welches die Grundlage für den neuen Staat bilden soll. Diesen Gedanken spricht Jellinek aus: „Indem eine Nation sich zum Staate organisiert, ist ein zweifaches nötig. Erstens ein Hinwegräumen der alten staatlichen Zustände, zweitens eine Neuschöpfung 1.“

A. Historische Darstellung 2.

Am 8. Juni 1815 dekretierte der Wiener Kongress die Vereinigung Belgiens, der dank Friedrich dem Grossen bis zur französischen Revolution österreichisch gebliebenen Niederlande, mit Holland zu einem Königreiche der Niederlande. Die Mächte hatten. bereits in einem Vertrage zu London vom 20. Juni 1814 Wilhelm auferlegt, dass den belgischen Provinzen eine angemessene Vertretung in den Generalstaaten einzuräumen sei, dass allen Kulten ein gleicher Schutz gewährt werden solle, kurz, dass sämtliche Unter

1 Staatenverbindungen S. 263.

2 Beide Abschnitte enthalten eingangs eine rein historische Darstellung, weil keines der einschlägigen Geschichtswerke eine knappe Zusammenstellung der Tatsachen bietet, welche für die Entscheidung unserer Fragen in Betracht kommen.

tanen des Königreichs der Niederlande verfassungsmässig gleichgestellt werden müssten.

Doch eine Vereinigung, eine Verschmelzung der beiden so grundverschieden gearteten Länder mit eigener historischer Vergangenheit erwies sich als schlechterdings unmöglich. Das neue Königreich trug den Todeskeim in sich von der ersten Stunde seines Daseins an1; treffend hat man hier von rápos rapos gesprochen: der Oranier wünschte, der Wiener Kongress befahl diese Unehe. Schon die Bezeichnung der südlichen Provinzen, denen man eben noch Hoffnung auf eine selbständige staatliche Existenz gemacht hatte, als eines accroissement de territoire empfanden die Belgier als eine Demütigung (Art. 6 des Pariser Vertrags vom 30. Mai 1814: La Hollande, placée sous la souveraineté de la maison d'Orange, recevra un accroissement de territoire). Standen doch den mehr als drei Millionen Bewohnern der früheren österreichischen Niederlande kaum zwei Millionen Holländer gegenüber. War etwa das numerisch schwächere holländische Volk den Belgiern kulturell überlegen? Nur darauf bedacht, ein Bollwerk gegen Frankreich zu schaffen, brachten die Grossmächte weder die nationalen Gegensätze, noch den Sprachendualismus, noch die Verschiedenheit der Religion, noch endlich die mannigfachen widerstreitenden wirtschaftlichen Interessen beider Länder genügend in Anschlag 2.

Es hätte eines starken, klarsehenden und duldsamen Herrschers bedurft, um die vorhandenen Gegensätze zu mildern, soweit dies überhaupt möglich war. Wilhelm von Oranien war durchaus nicht die geeignete Persönlichkeit. Er konnte seinen Ursprung nicht vergessen, er blieb Holländer3. Nur solche Belgier wurden zu Staatsämtern zugelassen, welche des Holländischen mächtig waren, obwohl gerade den gebildeten Ständen diese Sprache gänzlich unbekannt war. Die Besteuerung der nötigsten Lebensmittel rief lebhafte Unzufriedenheit in den ärmeren Schichten der Bevölkerung hervor. Die nördlichen Provinzen schickten ebenso viele Vertreter

1 Vgl. hierzu z. B. NOTHOMB, 4me éd. S. 74: En créant ce royaume, en 1815, on n'avait fait qu'organiser un antagonisme: une catastrophe était inévitable: il n'y avait là qu'une question de date. La Belgique était attachée à la Hollande comme une révolution vivante."

2 LAVISSE-RAMBAUD S. 334, 335, 337. GEORG WEBER S. 820.

3 MOKE S. 586. JUSTE, Congrès S. 25. Vgl. namentlich die treffende Charakteristik Wilhelms, die LAVISSE-RAMBAUD S. 337 f. gibt.

4 S. hierzu und zum Folgenden die schweren Anklagen, welche NOTHOMB

S. 7 ff. gegen das holländische Regiment erhebt.

in die Generalstaaten wie die weit stärker bevölkerten südlichen Teile der Monarchie, was gewiss keine angemessene (,,convenable") Vertretung der Belgier zu nennen ist. Die Belgier hatten durch die Abstimmung ihrer Notablen das in den nördlichen Provinzen bereits in Kraft stehende „Grundgesetz" mit 796 gegen 527 Stimmen abgelehnt, ein grosser Teil der katholischen Notablen wegen der den Kultus betreffenden Artikel. Diese Demonstration ist nicht mit Unrecht ein bemerkenswertes Vorzeichen der Revolution von 1830 genannt worden1. Durch allerlei Sophistereien drehte der König die Sache so, dass er eine Majorität für sich herausbrachte, und so erklärte er: „Die grosse Mehrheit des Volkes hat die Verfassung angenommen 2." Dieser noch von Hohn begleitete Wortbruch machte die katholische Partei zur unversöhnlichen, leidenschaftlichen Feindin der holländischen Herrschaft und führte deren Sturz herbei. In den Augen fast aller Belgier war das Grundgesetz fortan ein coup d'État permanent" 3. In kirchenpolitischen Dingen legte der König einen verhängnisvollen Mangel an Besonnenheit und Konsequenz an den Tag. Indem er in die Bahnen Josephs II. einlenkte und eine Vorbildung des Klerus in seinem Sinne durchzusetzen suchte, schärfte er die Gegensätze nur noch mehr. Hart und doch durchaus zu billigen ist das Urteil Mokes über die Errichtung des Collège philosophique in Löwen: „Cette tentative de résurrection du fameux séminaire de Josephe II prouvait un manque complet de tact politique de la part du roi." Ueber die Schranken, welche ihm die Verfassung zog, setzte er sich willkürlich hinweg. Selbst die Unabhängigkeit der Gerichte tastete er an, und gegen die Presse, welche die Willkürlichkeiten des holländischen Regiments scharf geisselte, ging er mit äusserster Schroffheit vor. Ein Sturm von Petitionen machte wenig Eindruck auf den verblendeten König. Allenthalben in Belgien, besonders bei der liberalen Partei, bewirkte die Besorgnis, der König möchte auf seiner Bahn noch weiter vorschreiten, eine immer steigende Er

1 Vgl. NOTHOMB S. 7. LAVISSE-RAMBAUD S. 340f. GIRON S. 80. Ueber diese „arithmétique hollandaise" s. die kurze Ausführung bei MOKE S. 584.

3 LAVISSE-RAMBAUD S. 341. Vgl. ferner NOTHOMB S. 15 sowie VAUTHIER S. 14f.

MOKE S. 586. LAVISSE-RAMBAUD S. 350.

Durch seine Sophistereien in der Rheinschiffahrtsfrage Wilhelm sich die Sympathieen mehrerer fremder Regierungen.

verscherzte

regung. Sie erhielt stets neue Nahrung durch den kaum zu überschätzenden Einfluss der Schriften des bekannten französischen Staatsrechtstheoretikers Benjamin Constant und seiner Anhänger, die einen Konstitutionalismus forderten, welcher bei den häufigen absolutistischen Anwandlungen des Königs Wilhelm in den Niederlanden nicht aufkommen konnte. „Er selber wollte persönlich regieren, er allein der Mittelpunkt von allem, er die Seele des politischen Körpers sein"; „er war nicht geschaffen und geneigt, sich in den Schranken eines konstitutionellen Staatswesens zu bewegen 2."

Die von den Grossmächten erstrebte „fusion intime et complète" (Londoner Vertrag vom 20. Juli 1814) hatte sich also als ein Ding der Unmöglichkeit erwiesen. Um die Erfüllung ihrer Forderungen nötigenfalls mit Gewalt zu erzwingen, vereinigten sich die beiden grossen Oppositionsparteien, die katholische und die liberale, zu gemeinsamem Kampfe3. Die unausgleichbaren Gegensätze traten zurück hinter den gemeinsamen Hass gegen das in seiner damaligen Handhabung unerträgliche Regiment der Holländer. Fast möchte man sagen, dieser gemeinsame Hass, diese starke Unzufriedenheit im ganzen Lande, habe wenigstens für die Zeit der Kämpfe und der Staatskonsolidierung eine réunion intime et complète herbeigeführt. Die Belgier fühlten und wussten sich als eine Einheit, nicht als eine Stammesgemeinschaft, sondern als eine Gesamtheit, welche durch religiöse, politische und wirtschaftliche Gegensätze gegen den Norden zusammengehalten wurde. Die Katastrophe war unausbleiblich, der Sieg der Pariser Julirevolution wirkte ermutigend auf die noch zagenden Belgier und brachte das Gewitter, welches schon lange über dem Königreich der Niederlande stand, zum Ausbruch.

Mehrere Führer der belgischen Bewegung, unter ihnen de Potter und Gendebien, waren in der französischen Hauptstadt versammelt und unterhielten Beziehungen zu den Parteihäuptern in der Heimat. Der 24. August, der Geburtstag des Königs, sollte festlich begangen werden. Dieser Zeitpunkt schien den Agitatoren der geeignetste,

1 JUSTE, Congrès I 27 ff., besonders S. 29.

2 GEORG WEBER S. 824. S. auch LAVISSE-RAMBAUD S. 338.

3 Das Nähere s. bei MOKE S. 587. LAVISSE-RAMBAUD S. 353 ff.

1 Vgl. hierzu JELLINEK, Staatenverbindungen S. 257 und 263. Sehr gut JUSTE, Histoire de Belgique III 140: „L'opposition devenait le pays tout entier," Aehnlich NOTHOMв S. 33 ff,

das Volk zu gleichzeitiger allgemeiner Auflehnung fortzureissen. Grosse Anschläge verkündigten: Lundi 23 août, feu d'artifice; mardi 24, illumination; mercredi 25, révolution." Nach einer Aufführung im Brüsseler Theater, bei der es schon zu lärmenden Szenen kam, brachen die Unruhen aus. Eine Schar des zusammengelaufenen Volkes drang in die Druckerei des verhassten Regierungsorgans National ein und richtete dort die grössten Verwüstungen an. Dann ging's zum Justizpalast, und nicht am wenigsten richtete sich die Wut der Empörer gegen den Minister van Maanen, „le mauvais génie du roi", und den Polizeidirektor, deren Wohnungen zerstört wurden. Und so trieben's die erregten, von niemandem gehinderten Volksmassen auch am folgenden Tage, bis mehrere besonnene Männer, darunter Karl Plétinkx und Vanderlinden, eine Bürgerwehr organisierten, an deren Spitze Emanuel d'Hoogvorst trat. So wurde den schlimmsten Ausschreitungen ein Ende gemacht. Die holländischen Behörden, gelähmt vor Schrecken, blieben untätig. Unter dem Jubel der Bevölkerung holten mehrere junge Leute das nassauische Banner vom Stadthause herunter und ersetzten es durch die alte brabantische Fahne 3. Eine Reihe belgischer Notabeln war in Brüssel zusammengetreten und hatte beschlossen, fünf Delegierte an den König zu schicken, welche vor allem auf die Entlassung des Ministers van Maanen dringen sollten. Die Empörung pflanzte sich von der Hauptstadt aus mit grosser Schnelligkeit in ganz Hennegau, Brabant und Flandern fort. Was die Belgier wollten, war eine grosse Demonstration gegen die bisherige Willkürherrschaft, der man nur so ein energisches Halt entgegen rufen zu können glaubte. A ce moment, la majorité des Belges ne souhaitait encore que la séparation administrative des deux parties du royaume avec le maintien de la maison de Nassau "."

Die Lage der Dinge blieb zunächst unverändert. In der Zeit vom 25. August bis zum 22. September verhandelten die Insurgenten bald mit dem Könige, bald mit dem Prinzen von Oranien. Die Regierung zögerte: während der König und sein in Belgien

1 MOKE S. 588. „Die Stumme von Portici“ wurde gegeben.

2 LAVISSE-RAMBAUD S. 338. GEORG WEBER S. 827.

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JUSTE, Histoire de Belgique III 142. JUSTE, Congrès I 31: „Les voeux de la majorité, transmis au souverain, s'arrêtaient encore à une séparation administrative entre les provinces méridionales et les provinces septentrionales du royaume..."

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