IV. Die Verachtung und die Selbstüberhebung Es ist nichts gefährlicher als die Verachtung der Wissenschaft und des wissenschaftlichen Geistes. Abgesehen, daß in unserer Zeit die Wissenschaft, sowohl die exakte als die historische, auf das praktische Leben den unmittelbarsten Einfluß übt, und die Münze, welche die Wissenschaft ausgeprägt hat, sofort als kourant durch das reale Leben kursirt, ist die nothwendige Folge, wenn die wissenschaftliche Cultur vernachlässigt wird, ein Mangel an konsequenter Logik und ein Ueberfluß an Geschmacklosigkeit. Bekennen wir es offen, die Entfernung von der eigentlichen wissenschaftlichen Kultur hat, mit Ausnahme jener Paar Spanier und Italiener, an denen jezt unablässig herumgearbeitet wird, über anderthalb Jahrtausende die Bekenner des Judenthums und ihre Lehrer bei all ihrer Geistesthätigkeit und steten Uebung des Scharfsinns doch nur in einer geschmacklosen und unlogischen Richtung fortgetrieben und festgehalten. Dies ist daher das eigentlichste Verdienst Mendelssohns, uns aus diesem beschränkenden Abwege in die große Heerstraße des Wissens und des Geschmackes eingeführt und mit einer höhern Geistescultur zum ersten Male wieder als Jude Eleganz und Correktheit der Sprache verbunden zu haben, worin ihm für die hebräische Muse glücklicher Weise Wesselh zur Seite stand. Mit dieser Geschmacklosigkeit rächt sich denn auch die Wissenschaft noch heute an Jedem, der sie verachtet oder verkrüppelt, und jene von den jüngeren jüdischen Theologen, welche sich mit der einen Hand den Doctorhut aufs Haupt sezen, mit der andern aber einen Bann auf jede wissenschaftliche Forschung schleudern, und von denen einer in die Welt hineinschreibt, Lateinisch und Griechisch zu lernen, sei nur darum gut, um die Fremdwörter im Talmud besser zu verstehen, als wenn unsere Väter nicht zehnmal größere Talmudisten gewesen wären, als diese Epigonen, belohnt sie hierfür mit den tüchtigsten Eselsohren, die zu finden. Vergebens wähnen sie, sich bei dem Volke dadurch in den Geruch der Heiligkeit zu bringen: die Schaar Derer, die gläubig zu dieser Gleißnerei hinaufschauen, wird immer geringer, die Verachtung aller gebildeten und aufrichtigen Charaktere wird ihnen zu Theil, und zuletzt wird es ihnen bewußt werden, daß sie nicht zum Heile der Religion, sondern für das Gegentheil gewirkt haben: denn die Religion als den Gegensatz von Wissenschaft, Bildung und Geschmack darstellen, heißt in unserer Zeit ihr die Geister abtrünnig machen, nicht aber zuführen. Indeß man kennt die Motive dieser Leute. Es kommt ihnen nur darauf an, ein Häuflein, und sei es noch so klein, Blindgläubiger um sich zu sammeln, sie vollständig zu beherrschen und zu fanatisiren. Dies freilich thut und will der wissenschaftliche Theologe nicht; er will belehren, überzeugen, klären, den Aberglauben beseitigen, die reine Gottesverehrung in die Herzen pflanzen, strenge sittliche Grundsäße aufstellen — das ist eine Arbeit, die sich nicht mit der Kniebeugung der Menschen belohnt, wohl aber mit dem Bewußtsein, im Geiste des wahren Judenthums für Gott und Menschen gewirkt zu haben. Indeß dieser Verachtung der Wissenschaft gegenüber darf niemals vergessen werden, daß es auch einen Gößendienst der Wissenschaft, eine Selbstüberhebung ihrer Jünger giebt, welche nicht minder einseitig und nachtheilig wirkt. Es ergiebt sich hier für die Gegenwart eine ganz neue eigenthümliche Erscheinung. Es war in den früheren Zeiten etwas ganz gewöhnliches, daß die Wissenschaft, insonders auch die Philosophie, auf Grund einiger wenigen Thatsachen und Beobachtungen Theorien und Systeme aufbaute, die sie in ihrer Selbstüberhebung für das Alleinrichtige und Wahre ausgab. Von den ionischen Philosophen an bis zur Schelling'schen Naturphilosophie wagte es der menschliche Geist, die Welt des Sinnlichen und Uebersinnlichen auf die Basis unbedeutender und einseitiger Naturkenntnisse aufzubauen. Die Wissenschaft verachtete die Empirie, entnahm aus ihr ein geringfügiges Material und glaubte mit der Fähigkeit des Genius allein das Wesen der Dinge, die Natur des Geistes und Gottes durchschauen, erklären und systematisiren zu können. Dies war die Selbstüberschägung der Wissen schaft in früheren Zeiten, und folgerichtig bestand daher der Materialismus der Alten eigentlich in der Läugnung aller finnlichen Wahrnehmungsfähigkeit, in dem vollständigen Skeptizismus aller menschlichen Intelligenz. In unserer Zeit ist es gerade umgekehrt: die Philosophie macht sich zur Magd der Empirie, sie stellt sich dieser unter. Bei dem außerordentlichen Fortschritt, den die Naturwissenschaft seit 1784 gemacht hat, überhebt sich die Wissenschaft darin, daß sie dem Sezirmesser des Anatomen, der Retorte des Chemikers und dem Fernrohr des Astronomen allein Geltung zuspricht, daß sie Alles, was sie nicht unter, in und vor diese bringen kann, für nicht vorhanden erklärt, und daß nun eine magere Philosophie die Beobachtungen der Naturforschung als den alleinigen Maßstab der Kritik und als die Grundlage ihrer dürftigen metaphysischen Entwickelungen ausgiebt. Dies ist der Materialismus der Jeztzeit, der, dem Skeptizismus der Alten schnurstraks gegenüber, die sinnliche Wahrnehmung als die allein gültige anerkennt, und Geist, geistige Anschauung, geistige Deduktion frisch wegläugnet. Der Kritiker hält die Ansicht, daß wir nur die Oberfläche der Natur zu durchdringen vermögen, für philisteriös, da die Wissenschaft die Geseze des Himmels und die Bahnen der Weltkörper erkannt habe; er verlacht die Psychologie, da allein die Physiologie Aufschluß zu geben vermöge; ihm hat die Wissenschaft jedes Räthsel des Daseins gelöst und ein Verlangen nach höherer Kenntniß erscheint ihm als ein „überwundener Standpunkt“, den man nur unwissenden Menschen insinuiren könne. Leider! zeigt er sich hierin entweder selbst unwissend, oder er glaubt mit jenen Phrasen Unwissende blenden zu können. Bei allen Fortschritten der Physiologie steht sie doch gerade noch in allen den Theilen auf niedriger Stufe, welche sie der Psychologie zur Grundlage machen könnte. „Unsere Kenntniß“, sagt Stilling über den Bau der Nerven-Primitivfaser und der Nervenzelle (1856 S. 7.), ein Mann, der diesem Gegenstande sein ganzes Leben gewidmet hat, „unsere Kenntniß selbst von den ersten Grundzügen des Nervensystems ist noch viel zu sehr in ihrer Kindheit, als daß wir uns mit einiger Sicherheit an Theorien über die Functionen seiner verschiedenen Elemente wagen dürften.“ Zu aller und auch zu unser Zeit wird jede neue Entdeckung sofort zum Unterbau von Hypothesen und Theorien gemacht. Macht die Chemie einen bewunderungswürdigen Fortschritt, so werden sofort alle Erscheinungen des Lebens auf chemischem Wege gedeutet. Thut sich in der Physik eine außerordentliche Entdeckung auf, so werden alle Funktionen des Daseins auf diese zurückgeführt. „Die Leichtfertigkeit“, sagi Lewes (Naturstudien am Seestrande, 1859. S. 361), womit Leute, die wenige oder gar keine Kenntnisse vom Nervenbau besigen, Theorien darüber entwerfen, wird nur durch die Leichtfertigkeit übertroffen, womit man alle möglichen Erscheinungen auf Elektrizität zurückführt. Es ist daher vielleicht nicht überflüssig, hervorzuheben, daß unsere Kenntniß der Nerven noch im Zustande der Kindheit ist, daß wir noch nicht einmal die ersten Thatsachen festgestellt haben."- Was kann also troz ihrer großartigen Studien die exakte Wissenschaft sich für ein Urtheil über das Leben der Psyche zutrauen oder gar anmaßen? - Der Kritiker läugnet, daß wir kaum die Oberfläche der Natur zu durchdringen vermögen, und er frage sich doch, was der Mensch selbst von diesem Erdkörper, auf welchem er seit Jahrtausenden steht, arbeitet und forscht, mehr kennt als die Oberfläche, und wie wenig noch von dieser selbst? Ist es doch kaum ein Zweitausendstel des Erddurchmessers, daß wir in die Erdrinde einzudringen vermögen. · Der Kritiker steift sich darauf, daß wir die Gesetze des Himmels und die Bahnen der Weltkörper erkannt haben. Thöricht! Das Einzige, was wir uns mit Bestimmtheit angeeignet haben, ist das Gesetz der Bewegung, fürwahr nur das Aeußerlichste der Aeußerlichkeiten. Was wissen wir von dem Wesen des Lichts, dieses eigentlichen Mediums der Weltkörper untereinander? Kennen wir das Verhältniß desselben zu den andern Weltkörpern, die Erscheinungen, die es dort hervorruft? Welche geringe Fortschritte haben wir in der Kenntniß jenes Sonnenballs gemacht, von dem alles organische und nach der Ansicht eines neuen, geologischen Systems auch alles anorganische Dasein abhängt? In der That, um es kurz zu fassen, wenn ein geistreicher Mann jüngst bemerkte, daß all unser Wissen und Erkennen doch nur dem Zustande des Kindes gegen die Wissenschaft und das Denken eines hochgelehrten Forschers gleicht, so soll doch wohl dem Kinde das Verlangen nach Weiterem einwohnen, und es kann nur eines kindischen Kritikers sein, jenes als einen von der Wissenschaft überwundenen Standpunkt auszugeben. Lassen wir uns daher weder nach der einen noch nach der andern Seite beirren. Religion und Sittlichkeit können eben so wenig der Wissenschaft und des wissenschaftlichen Geistes entbehren, wie diese der Religion und Sittlichkeit. Die ersteren werden ohne die letzteren immer auf Abwege gerathen, welche in die Tiefen des Aberglaubens führen, während die Wissenschaft ohne die Religion nur in die Frrwege materiellen Wissens und schwankender Hypothesen leitet. Bei der Vergangenheit aber, die wir Juden hinter uns haben, müssen wir uns insonders in Acht nehmen, denselben Irrungen uns wiederum hinzugeben, von welchen wir uns seit einem Jahrhundert mühsam entfernt haben, oder vielmehr erst nach und nach entfernen. Unsere Religion für eine Religion der Ignoranz und der Geschmacklosigkeit erklären, und ihr Gedeihen nur innerhalb dieser möglich halten, heißt ihr den Todesstoß in den Augen der Welt und des gebildetn Theils ihrer Bekenner versetzen. Nein! Die Religion Israels foll ihren Plak unter den großen Erscheinungen des Menschengeschlechtes ein- und ihre Mission für die Menschheit übernehmen; sie soll zugleich nicht allein dem unwissenden Theile unseres Stammes genügen, sondern auch das Bedürfniß der Höhergebildeten und Fortgeschrittenen befriedigen. Beides vermag sie aber nur durch eine wissenschaftliche Durcharbeitung und durchgebildete Formen in ihrer äußeren Erscheinung. Vor jenen Auswüchsen der Wissenschaft, der Selbstüberschätzung und materialistischen Richtung sind wir ja schon dadurch geschüßt, daß es der religiöse Standpunkt ist, von dem aus wir die Wissenschaft erfassen und fortzuführen uns bestreben. |