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II.

Wonach verlangt die Menschheit in der Religion

In unserer Zeit stößt die Religion keinen „Schmerzensschrei“ mehr aus, mag es auch die Kirche bisweilen noch so sehr thun. Seitdem Politik und Religion völlig geschieden sind, die Religion keine Politik mehr treiben und die Politik der Religion keine Vorschriften mehr stellen darf, seitdem ferner das Individuum in jeder Religion seiner Ueberzeugung leben kann und in diesem seinem Rechte geschützt ist, lebt die Religion ein freies selbständiges Leben, das von äußeren Mitteln unabhängig ist. Wer weiß es nicht, daß die politischen, nationalen und sozialen Fragen, daß die künstlerischen und wissenschaftlichen Bestrebungen, nachdem sie sämmtlich aus den abgeschlossenen Kreisen von Fachmännern herausgetreten, einen breiten Raum in der Menschheit eingenommen und gewissermaßen in den Vordergrund getreten sind; den großen Mittelraum nehmen die materiellen und industriellen Arbeiten, die eine so unermeßliche Entwickelung gewonnen haben, ein. Aber ist darum die Religion mit allen ihren Fragen und Wirkungen, mit ihren Interessen und Einflüssen aus der Menschheit geschwunden? Nimmermehr. Die Religion ist zu sehr der Unterbau des ganzen menschlichen Wesens, sie ist das Nervengeflecht des Verstandes und des Herzens, so daß sie, auch unbewußt, auch krank und abgeschwächt, den Menschen beherrscht und in ihm lebt. Sie ankert in allen Verhältnissen des Menschen, in der Familie und in der Gesellschaft, in allen Fragen, die der Mensch an sich selbst richtet, in jedem Blicke, den er aufwärts und um sich wirft. Nur daß sie nicht mehr den Markt des Lebens beherrscht, daß sie nicht mehr kampfgerüstet auf die äußere Bühne des Lebens tritt und die Menschenwelt in den Krieg und auf die

Schlachtfelder führt. Vielleicht arbeitet sie desto thätiger im Innern, vielleicht ist sie um so geschäftiger und geeigneter, ihre Fragen zu lösen und ihrem Ziele sich zu nähern.

Da fragen wir um so nachdrücklicher: wonach strebt denn die Menschheit in der Religion? Was ist ihr Verlangen, ihre Sehnsucht?

Nein! Ebensowenig gehört den Materialisten und Atheisten wie den Fanatikern und Zeloten die Zukunft der Menschheit. Es mögen jene von Zeit zu Zeit immer wieder Lärm schlagen, den Mund voll nehmen und ihre Phrasen und Sophismen ausbreiten; ihre hohle und trostlose Lehre ist nichts als Verneinung, gibt dem Menschen nichts, woran er sich halten, worauf er bestehen kann; der unermeßliche leere Raum voll todten Stoffes, der sich immerfort selbst gebiert und selbst verzehrt, wo Leben und Tod ihre Grenzlinie verlieren, das Dasein Nichts und das Nichts Dasein ist, gähnt als · ein Abgrund, in welchen Sittlichkeit und Recht, Liebe und Pflicht, Erkenntniß und Wahrheit hinunterstürzen, um niemals wieder heraufzukommen. Nein! Nur Gott vermag lebendigen Odem in den Staub der Erde zu hauchen; so ihr aber den lebendigen Geist in Staub der Erde verwandelt, zerfällt der Erdenkloß und bleibt Staub für immer! Aber auch die Fanatiker, welcher Religion sie auch angehören, haben die Zukunft der Menschheit nicht in ihren Händen. Man täusche sich nicht, sie sind noch sehr stark, und wenn sie in einigen Gegenden, z. B. in Norddeutschland wie verschwunden. scheinen, so haben sie sich in anderen z. B. in Süddeutschland noch große Macht bewahrt. Und nicht etwa blos in den unteren Schichten des Volkes, sondern gar Viele aus der sog. gebildeten, ja aus der wissenschaftlichen Klasse beugen sich vor ihnen und geben sich zu ihren Werkzeugen her. Zweifeln wir nicht, daß der Zelotismus sich noch oft regen werde, daß er noch allzu oft Einfluß gewinnen und üben werde, daß wir uns noch allzu oft vor ihm zu schützen und gegen ihn zu kämpfen haben; es ist gefährlich, sich in Sicherheit zu wiegen und einen Feind für überwunden zu halten, wenn wir seine Waffe nicht gezückt sehen. Aber da seine Stärke nur in der Verdunkelung besteht, da er nur durch die Verneinung der höchsten menschlichen Güter, durch die Unterdrückung aller Entfaltung und Entwickelung existiren kann, so daß alle natürliche Treibkraft des menschlichen Wesens zu seinem Untergange drängt, so kann seine Herrschaft niemals wieder eine allgemeine werden. Die Menschheit

weiß jezt zu sehr, wer ihr, wer der Religion die tiefsten Wunden geschlagen, wer die Wahrheit am meisten geknechtet, wer dem Rechte und der Liebe die drückendsten Fesseln angelegt, um sich diesem Spiele noch einmal dauernd hinzugeben. Der Fanatismus schwächt sich zu Bigotterie ab und diese ist nur eine Krankheit von Individuen, ohne die Energie einer Epidemie zu besigen.

Die Menschheit weiß jetzt, was eine falsche Religion ist. Jede Religion, die verdammt und verkezert, ist eine falsche. „Geknicktes Rohr zerbricht er nicht, glimmenden Docht verlöscht er nicht: mit Wahrheit soll das Recht er bringen.“ (Jes. 42, 3.) — Jede Religion, welche die Menschheit zu gewaltthätigen Parteien spaltet, zum blutigen Kriege treibt, Kerker und Scheiterhaufen für Andersgläubige rüstet, ist eine falsche: „Und siehe, der Ewige zog vorüber, und ein großer, starker Wind, Berge zerreißend und Felsen zerschmetternd vor dem Ewigen; nicht im Winde war der Ewige. Und nach dem Winde ein Erdbeben; nicht im Erdbeben war der Ewige. Und nach dem Erdbeben Feuer; nicht im Feuer war der Ewige. Und nach dem Feuer ein sanftes Säuseln" - und in dem sanften Säuseln war der Ewige. (1. Kön. 19, 11. 12.) - Eine jede Religion, die ihr Wesen allein in der Uebung äußerer Formen findet, die das Heil und den Frieden von der Uebung äußerer Formen abhängig macht und für diese verheißt, ist eine falsche: So ihr kommt zu erscheinen vor mir, wer begehrt dies von euch, zu zertreten meine Vorhöfe? Bringet nicht mehr heuchlerische Speiseopfer; Räucherwerk ist mir ein Gräuel; Neumond und Sabbath, Zusammenberufung, nicht mag ich Frevel und Fest." (Jes. 1, 12. 13.) „Ist nicht das ein Fasten, das ich liebe: öffene die Schlingen der Bosheit, löse die Bande des Joches, frei entlasse die Unterdrückten und jegliches Joch zerbrechet!" (Jes. 58, 6.) "Hat der Ewige Gefallen an Ganzopfern und Schlachtopfern wie an Gehorsam gegen die Stimme des Ewigen? Siehe, Gehorsam ist besser denn Opfer, Aufmerken denn der Widder Fett." (1 Sam. 15, 22.)

Die Menschheit aber verlangt nach der wahren Religion; sie verlangt nicht mehr nach Sturm, Erdbeben und Feuer, sondern nach dem sanften Friedensfäuseln, in welchem der Ewige ist. Sie verlangt, daß die Religion die Sonne am blauen Himmel sei, welche leuchtet und wärmt, Blüthen schafft und Früchte reift; daß sie der Thau des Himmels sei, der die dürre Erde befeuchtet und in Mil

lionen Tropfen funkelt; daß sie der belebende Luftstrom sei, der die faulen Dünfte aus der Menschenwelt von dannen führt, aber auch der linde Zephyr, der durch jede Cypresse flüstert und tröstet und erquickt. Ja, alles Belebende und Erfrischende, alles Erhebende und Läuternde, alles Tröstende und Stärkende, alles Belehrende und Erleuchtende erwartet sie von der wahren Religion, wie sie besteht, gegeben, gelehrt, erwachsen, entfaltet und selbst geläutert, und wie sie ersteht und sich immer wiedergebiert in jedem reinen Geiste.

Was ist aber die wahre Religion? Es ist einfach zu sagen, wenn auch unermeßlich groß und inhaltsreich. Sie ist die reine Gotteserkenntniß, wie sie aus dem Mosaismus hervorgegangen, durch die drei Jahrtausende sich hindurchgerungen und mitten durch die verschiedenartigste Auffassung, mitten durch die mannigfaltigsten Gestaltungen sich immer mehr als das allein bleibende Erwerbniß der Menschheit hervorhebt; die reine Gotteserkenntniß, deren unmittelbare Consequenz das Recht und die Liebe sind, wie diese sich als unveräußerliches Gut und Heil des Individuums und als das wahre Lebensprincip der ganzen menschlichen Gesellschaft immermehr von den Verunstaltungen der Zeiten, von den Fesseln der Jahrhunderte frei machen. Danach verlangt die Menschheit, danach strebt sie auf allen ihren Wegen hin.

III.

Die Zukunft der Religion.

Wer jezt einen überschauenden Blick auf irgend ein Gebiet menschlicher Arbeit wirft, wird nur in wenigen einen Zustand lichtvoller Ordnung, eine einheitliche Richtung, einen bestimmten Pfad mit seinem sichern Ziele finden. Ueberall ein erfolgreiches Arbeiten im Einzelnen und Speziellen, und darüber ein allgemeines Chaos, ein Durcheinander der Anschauungen, Systeme, Grundfäße, die entgegengesetztesten Strömungen, Zusammenstoß von allen Seiten.

Und dies besonders in der Religion, in allen höheren Fragen des menschlichen Daseins, in allen Erkenntnissen und deren Folgerungen.

Wie oft wurde und wird da die Frage an uns gerichtet, und wie oft begegnen wir ihr in allen möglichen Schriftwerken: was wird da die Zukunft sein? Was wird das Ende alles dessen, was das Ziel insonders der Religion sein? Was wird daraus werden?

Ueber diese Frage einige Betrachtungen anzustellen und unsre Ansicht auszusprechen, ist es, wozu wir uns heute bewogen fühlten Hierzu jedoch Einiges voran.

Stets hielten wir zwei Gesichtspunkte fest. Der eine: die Dinge möglichst so anzusehen und ungeschminkt darzustellen, wie sie sind. Wir wissen sehr wohl, daß der Mensch augenblicklicher Stimmung gar sehr unterworfen ist, und diese ihm troz besten Willens gefärbte Gläser vor die Augen hält; ebenso daß er sich fast immer zwischen Hoffnungen und Täuschungen bewegt, welche ihm die Erscheinungen dieser Welt bald in farbigem Glanze und in der Frische der Jugend, bald entstellt und blut- und leblos zeigen. Doch ist es dem ernsten

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