Obrazy na stronie
PDF
ePub

für die Normirung der christlichen Lehre überhaupt zuschreiben. Thatsächlich ist nun die Theologie der Reformatoren und die an sie anknüpfende protestantische Dogmatik am unmittelbarsten durch die Lehre des Paulus bedingt worden. Solange man die Einhelligkeit des gesammten Schriftinhalts voraussetzte und unterschiedslos die heilige Schrift im Allgemeinen als die rechte Norm der christlichen Lehre betrachtete, erschien mit der Begründung der dogmatischen Lehrsäge durch paulinische Aussagen zugleich die christliche Authentie und nothwendige Geltung dieser Lehrsäße bewiesen. In der Gegenwart aber ist theologisch gebildeten protestantischen Christen diese einfache Identificirung von „paulinisch“ und „biblisch“, von „paulinisch“ und „nothwendig christlich" nicht mehr möglich. Die fortschreitende Schriftforschung hat je länger desto bestimmter zu der Erkenntniß hingeführt, daß die in der heiligen Schrift vorliegenden mannigfaltigen Lehrkreise nicht einfach mit einander verbunden oder auf einander reducirt werden können, sondern solche inhaltliche Verschiedenheiten zeigen, wie sie der Thatsache ihres Herstammens aus verschiedener Zeit, von verschieden gearteten und gebildeten Autoren, auf verschiedenen Stufen des Entwicklungsprocesses der alt und neutestamentlichen Religion natürlicher Weise entsprechen. Die heilige Schrift im Ganzen genommen bietet nicht eine feste, einheitliche Lehrnorm. Wollen wir bei unserer Berufung auf ihre normative Autorität nicht will= kürlich verfahren, und andererseits doch auch nicht einem katholischen Auslegungsprincip Raum geben, so müssen wir von der Vorstellung, daß die heilige Schrift selbst vermöge ihrer wunderbaren Inspiration unmittelbar und in allen ihren Theilen gleichmäßig die entscheidende Gottesoffenbarung darbiete, zu dem Gedanken aufsteigen, daß vielmehr Jesus Christus in dem von ihm gelehrten und durch sein persönliches Leben und Wirken veranschaulichten Evangelium vom Reiche Gottes die vollkommene Gottesoffenbarung für die Menschen war. Er ist durch dieses Evangelium der Begründer der christlichen Religion geworden, und wenn wir prüfen wollen, was authentisch christlich ist, müssen wir sein Evangelium zum Maßstab nehmen. Die heilige Schrift hat ihren einzigartigen Werth im Vorrang vor aller übrigen christlichen Literatur deshalb,

weil sie die Sammlung von Urkunden darstellt, aus welchen wir Jesum Christum erkennen und sein Evangelium in dem geschichtlichen Entwicklungszusammenhange, in welchem es aufgetreten ist, verstehen lernen. Das Maß der autoritativen Bedeutung aber, welche die verschiedenen biblischen Lehrkreise und einzelnen biblischen Anschauungen für die Normirung der christlichen Lehre haben, hängt ab von ihrer nachweisbaren inneren Uebereinstimmung mit der vollkommenen Offenbarung Jesu Christi selbst 1).

Unter diesen Umständen erhellt, daß die genaue Untersuchung des Verhältnisses der Lehre des Paulus zur Lehre Jesu von großem Interesse auch für die systematische Bearbeitung der christlichen Lehre in der evangelischen Kirche der Gegenwart ist. Wir können nur dann, wenn wir dieses Verhältniß richtig durchschauen, ein klares Urtheil darüber gewinnen, wie weit wir die theologischen Anschauungen des Paulus als autoritativ für das evangelische Lehrsystem zu betrachten, beziehungsweise wie weit wir den aus der paulinischen Theologie stammenden Lehrsäßen der überlieferten protestantischen Dogmatik eine fortdauernde, nothwendige Geltung in der christlichen Lehre zuzuschreiben haben.

Die genaue Darlegung des Verhältnisses der Lehre des Paulus zur Lehre Jesu ist eine Hauptaufgabe der biblischen Theologie des Neuen Testaments gewesen, seit diese Disziplin methodisch bearbeitet ist. Aber in der biblischen Theologie müssen die verschiedenen neutestamentlichen Lehrkreise zunächst in ihrem eigenen inneren Gefüge untersucht und als ganze neben einander gestellt werden. Eine Vergleichung im Einzelnen kann hier nicht, oder wenigstens nicht vollständig gegeben werden. Mir scheint es aber einem gegenwärtig vorliegenden Bedürfnisse zu entsprechen, daß der Vergleich der Lehre des Paulus mit der Lehre Jesu einmal auch im Einzelnen so weit wie möglich durchgeführt werde. Es genügt nicht, blos einen allgemeinen Eindruck von der principiellen Uebereinstimmung und dabei doch vorhandenen großen Verschiedenartigkeit dieser beiden Lehrkreise zu haben. Es genügt auch

1) Vgl. meine Schrift: „die Norm des echten Christenthums“, Nr. 5 der Hefte zur Christlichen Welt", Leipzig 1893.

nicht, ein Urtheil speciell über das Verhältniß der Rechtfertigungslehre des Paulus zu der Lehre Jesu vom Reiche Gottes zu gewinnen. Es kommt darauf an, das Verhältniß aller verschiedenen Glieder der religiösen Verkündigung des Paulus zu der religiösen Gesammtanschauung Jesu darzulegen.

Die Durchführung eines solchen Vergleiches im Einzelnen ist nicht ganz einfach. Denn es handelt sich um zwei Gedankenkreise, die beide uns nicht in einheitlicher, systematischer Darstellung, sondern in gelegentlichen Aussprüchen und Reden beziehungsweise in Gelegenheitsbriefen vorliegen, wo schon die Verschiedenheit der Anlässe und Umstände eine Verschiedenheit der Ausführung und Anwendung der Gedanken bedingt hat. Hierzu kommt, daß die beiden Männer auf Grund ihrer verschiedenen Entwicklung und Erziehung auch verschiedene Begriffsformen anzuwenden und in verschiedener Weise ihre Gedanken auszuführen und zu begründen gewohnt waren. Andererseits ist die von uns beabsichtigte Vergleichung doch auch nicht eine unmögliche oder nur mit Künstelei durchführbare Aufgabe. Denn es ist doch eine und dieselbe religiöse Grundanschauung, welche bei Jesus wie bei Paulus den zusammenhaltenden Mittelpunkt der Lehrverkündigung ausmacht. Deshalb kann mit Recht gefragt werden, in welchem Maße der Uebereinstimmung oder Abweichung die besonderen religiösen Probleme, die mit dieser Grundanschauung in nothwendigem Zusammenhange stehen, von den beiden Männern aufgefaßt und beantwortet sind.

Bei der Ausführung unseres Vergleichs gehen wir meines Erachtens am zweckmäßigsten aus von demjenigen Punkte, an welchem sich die Uebereinstimmung des Paulus mit Jesus am deutlichsten zeigt und am meisten bis in's Einzelne verfolgen läßt: von der Auffassung des Wesens des messianischen Heilszustandes, der Art des zu diesem Zustande gehörigen göttlichen Heiles und menschlichen Rechtverhaltens. Hinterher müssen wir zuerst diejenige Anschauung des Paulus in Betracht ziehen, welche das wichtigste Princip für seine Abweichung von Jesus hinsichtlich der auf die Verwirklichung des messianischen Heilszustandes bezüglichen Vorstellungen gebildet hat: seine Anschauung von dem Wesen des außerchristlichen Unheilszustandes. Dann können wir weiter sehen,

wie sich unter diesen Voraussetzungen das Verhältniß der Vorstellungen des Paulus von dem Wesen und der heilsvermittelnden Bedeutung des Messias sowie von den Bedingungen der Theilnahme am messianischen Heilszustande zu den analogen Vorstellungen Jesu gestaltet hat1).

2. Das Wesen des messianischen Heilszustandes.

Die fundamentale Uebereinstimmug zwischen der Lehre Jesu und der des Paulus besteht in der gemeinsamen Gewißheit beider, daß durch Jesus als den erschienenen Messias der verheißene messianische Heilszustand verwirklicht wird. Jesus trat auf Grund seines messianischen Selbstbewußtseins mit der frohen Botschaft auf, daß die Zeit erfüllt sei und das Reich Gottes sich genaht habe (Mc. 1, 14 f.); er verkündigte, daß nach der Zeit des Weissagens und Wartens jezt die Zeit des Zupackens nach dem Gottesreiche gekommen sei (Mt. 11, 12 f. Lc. 16, 16) und daß ,,heute“, bei dem Hören seiner Predigt, die Verheißung von dem Erlösungsheile der Endzeit erfüllt sei (Lc. 4, 17—21; 10, 23 f.). Ebenso wußte sich Paulus als Knecht und Sendbote des Messias Jesus berufen zu der frohen Botschaft von diesem Messias, welche Gott durch seine Propheten in heiligen Schriften vorher verheißen.

1) Durch den besonderen Zweck der vorliegenden Arbeit ist es bedingt, daß ich auf solche Einzelheiten des Gedankenkreises Jesu oder des Paulus nicht eingehe, die mir für den Vergleich dieser beiden Gedankenkreise mit einander nicht von besonderem Belang zu sein scheinen. Ebenso verzichte ich auf eine Darlegung meiner kritischen Anschauungen über die Quellen, aus denen wir die Lehre Jesu und die des Paulus zu erheben haben. Mit Bezug auf die Quellen für die Lehre Jesu kann ich mich auf Theil I meiner „Lehre Jesu“ berufen. Ich werde mich in der vorliegenden Arbeit wesentlich auf die Verwerthung der synoptischen Quellen, d. h. des Marcusevangeliums und der Matthäuslogia, beschränken und nur kurz in Anmerkungen auch auf die johanneische Redequelle, die ich als apostolische Grundlage für unser viertes Evangelium betrachte, Bezug nehmen. Hinsichtlich der Paulusbriefe bemerke ich nur, daß ich den Epheserbrief und die Pastoralbriefe nicht für paulinisch halte und deshalb nicht mit verwende. Mir scheint zwar dem zweiten Timotheusbriefe ein kleines echtes Schreiben des Paulus zu Grunde gelegen zu haben. Das kann aber bei meiner gegenwärtigen Untersuchung außer Betracht bleiben.

hatte (Röm. 1, 1—4). Auch nach ihm ist mit der Sendung Jesu die Zeit erfüllt, die Vorbereitungsfrist abgeschlossen (Gal. 4, 1—4). „Jezt ist Heilstag" (2. Cor. 6, 2); in Christo Jesu ist das Ja und das Amen für alle Verheißungen Gottes gegeben (2. Cor. 1, 20).

Aber nicht nur diese allgemeine Gewißheit, daß jezt die verheißene messianische Zeit gekommen sei, war beiden gemeinsam. Auch über das Wesen des messianischen Heilszustandes hatten sie im Princip gleichartige Vorstellungen. Beide waren gleich weit entfernt von der Erwartung einer äußerlich-irdischen Erfüllung der alttestamentlichen messianischen Weissagungen. Beide standen in demselben Gegensatz gegen die alttestamentlich-jüdische Vorstellung von dem politischen Charakter und irdischen Glücke und Glanze der messianischen Zeit. Wie Jesus seinen Jüngern für ihr weiteres irdisches Leben schwere Kämpfe und Trübsale um seines Namens willen und nach Analogie des ihm selbst bevorstehenden Leidens in Aussicht stellte (Mc. 8, 34; 10, 37-39; 13, 9-13. Mt. 10, 24-39. Lc. 17, 22. 25), ebenso urtheilte Paulus, daß die Christen während der gegenwärtigen Erdenzeit nach Gottes Bestimmung Trübsal erfahren müßten (1. Th. 3, 3 f.) als Theilnehmer an den Leiden Christi (2. Cor. 1, 5; 4, 8-11. Röm. 8, 17. Col. 1, 24. Phil. 3, 10). Beide hatten aber auch die gemeinsame Anschauung, daß der messianische Heilszustand einerseits seine volle Ausgestaltung erst in der Zukunft, nach Ablauf des bestehenden irdischen Weltverlaufs finden werde, andererseits eine anfängliche Verwirklichung schon gegenwärtig bei den Jüngern des Messias gewinne, sofern dieselben schon hier auf Erden in einer gnadenvollen Kindesgemeinschaft mit Gott ständen.

Für die Uebereinstimmung in dieser Anschauung liegt ein Symptom in dem gleichartigen Gebrauche des Ausdruckes „Reich Gottes". Jesus nahm diesen überlieferten Ausdruck auf, nicht etwa weil ihm der Begriff des Königreiches als besonders be= zeichnend für den messianischen Zustand erschienen wäre er dachte ja in diesem Zustande Gott nicht sowohl als König über Unterthanen, als vielmehr als Vater über Kindern waltend sondern weil er bestimmt den Anspruch kundgeben wollte, daß der von ihm verkündigte Heilszustand die wahrhafte Erfüllung der

« PoprzedniaDalej »