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Vorwort.

's gibt zweierlei Arten, die Geschichte zu schreiben," heißt es bei Goethe, „eine für die Wissenden, die andere für die Lichtwissenden.“ Von der zweiten Art sagt er, sie sei die, wo wir selbst bei der Absicht, eine große Einheit darzustellen, auch das Einzelne unnachläßlich zu überliefern verpflichtet sind“. Berühmte deutsche Literaturgeschichten, von Gervinus bis nach Wilhelm Scherer, haben sich nur an die Wissenden gewandt: sie setzten bei ihren Lesern die genaue Kenntnis der deutschen Literatur voraus und boten ihnen hauptsächlich die besondere Auffassung des Geschichtschreibers von der Entwicklung dieser Literatur. Es bedurfte daneben für den lernbegierigen Leser noch eines zweiten Werkes, um zu der Meinung über die Tatsachen auch die Tat sachen selbst und einige Proben von den Dichtungen zu erfahren.

Die hier vorliegende deutsche Literaturgeschichte wendet sich an die Nichtwissenden, und das sind, mit Ausnahme der fachgelehrten, in höherem oder niederem Grade die meisten Leser. Ich habe kein Recht, bei der Mehrzahl Derer, die eine Literaturgeschichte benutzen, eine genaue Kenntnis des gesamten Gegenstandes vorauszusetzen; für Leser mit solchem Wissen sind Literaturgeschichten überflüssig. Da diese aber nur für Gebildete geschrieben werden, so darf mit Recht die Kenntnis einiger klassischer Werke unserer Literatur vorausgesetzt werden. Wer weder das Nibelungenlied noch die wichtigsten Dramen Lessings, Goethes und Schillers kennt, der tut wohl, erst diese zu lesen, ehe er nach geschichtlicher Belehrung über sie sucht. Aus diesem Grunde unterbleiben schülerhafte Angaben des Inhalts von Dichtungen wie dem Nibelungenliede, Minna von Barnhelm und Nathan, dem Faust und der Jungfrau von Orleans.

Der oberste Zweck einer Literaturgeschichte besteht in der Anregung und Wegeweisung für den Leser zum eigenen Genuß der Literaturwerke. Nachdem jetzt fast ein Jahrhundert wissenschaftlicher Durchforschung der deutschen Literatur verflossen ist, wäre es vielleicht heilsam, wenn nunmehr ein Jahrhundert ungestörten Genusses an den Kunstwerken unserer Dichtung folgte. Es gibt trot dem ungeheuren Betriebe der Literaturwissenschaft immer noch hunderttausende hochgebildeter Deutscher, die von der Beschäftigung mit Literatur nicht so sehr gelehrtes Wissen wie edelste Geistesbildung und innere Erhebung begehren. Vornehmlich für solche Leser ist dieses Werk bestimmt. Es spricht nicht überwiegend an den Werken der Literatur vorbei oder hoch über sie hinweg die selbstbewußten Meinungen des Verfassers aus, sondern es bietet dem Leser möglichst viele Tatsachen und es will vor allem andern zum Lesen der Werke, nicht zum Nachsprechen von Urteilen antreiben. Denn alle Literaturgeschichten, auch die berühmtesten, gehen dahin; einzig die Werke der Literatur bleiben.

Ein Führer des Lesers durch den kaum noch zu durchdringenden Wald deutscher Dichtung soll dieses Buch sein, kein Vormund feines Urteils. Ich habe das ästhetische Gerede über die Literaturwerke zurückgestellt hinter die Tatsachen und die Werke selbst, und gerade bei den größten und allbekannten Dichtungen habe ich absichtlich das eigene Urteil am meisten eingeschränkt. Ich denke, dem Leser, der sich z. B. über Schiller belehren will, wird es

wertvoller sein, ein Stück aus seinem wenig bekannten Gedicht „Deutsche Größe“ zu finden, als eine eingehende ästhetische Würdigung des Don Carlos nach den Hunderten, die es schon gibt. Wo immer es anging, ließ ich die Literatur selbst ihre Geschichte erzählen. Wertvoller als jedes Urteil von Literaturforschern sind Worte und Werke der Schriftsteller selbst. Die längste Auseinandersehung über Opizens, Lenzens, Hölderlins, Grabbes, Dehmels Dichtungsart kommt nicht gleich der Überzeugungskraft einer einzigen kurzen Dichtungsprobe. Man kann Farben nicht durch Worte schildern, man muß sie dem Auge zeigen. Und auch da, wo geurteilt werden muß, lasse ich wo nur möglich den Künstlern ihr unver äußerliches Recht, von ihren Gleichen, ihren Kunstgenossen gerichtet zu werden. Daher außer den vielen, mir noch immer nicht genügenden, nur durch den Zwang des Raumes be schränkten Proben die vielen wörtlichen Anführungen aus Urteilen der Schriftsteller über die Schriftsteller.

Literaturgeschichte ist nicht Sittengericht; sie ist auch keine Erziehungslehre von Kritikern für Dichter. Entscheidend für das Urteil war nur der künstlerische Wert der Werke, nicht der uns in fast allen Fällen ja kaum halbbekannte Charakter des Künstlers. Die Literaturgeschichte hat auch nicht die Aufgabe, mäkelnd und vorwißig zu untersuchen, was aus diesem oder jenem Dichter wohl geworden wäre, wenn er irgend etwas anderes hätte sein wollen, als was er tatsächlich gewesen ist. Einer unserer besten neueren Dichter, J. G. Fischer, wünschte sich von allen Literaturgeschichten eine solche, „welche gelassen den Mann, wie ihn sein Herrgott erschuf“. Eine Literaturgeschichte darf auch den Verfasser nicht dazu verleiten, voll Stolz auf sein notwendig großes Lesewissen jemals die Ehrerbietung vor den wahrhaft Schaffenden, auch vor den Kleineren, zu vergessen. Nicht nur weil ich selbst die Wonnen und Qualen dichterischen Bildens an bescheidenen Versuchen empfunden habe; sondern ebensosehr, weil ich durchdrungen bin von der Überzeugung, daß der beste Literaturgeschichtschreiber noch tief unter einem Dichter von mittlerem Grade steht, habe ich den verführerischen Reiz zur Überhebung des Urteils über die bedeutende Leistung mit bestem Willen unterdrückt.

Ich verhehle nicht, daß mein Buch ein Werk der Liebe und der Begeisterung ist. Nur aus Begeisterung für deutsche Literatur und unter ihrem steten Ansporn konnte ein Buch wie dieses entstehen, an dem ein großes Stück Leben hängt. Ich schäme mich meiner Begeisterung auch gar nicht, sondern halte es mit Goethes Worten an Schiller: „Mir kommt immer vor, wenn man von Schriften wie von Handlungen nicht mit einer liebevollen Teilnahme, nicht mit einem gewissen parteiischen Enthusiasmus spricht, so bleibt so wenig daran, daß es der Rede gar nicht wert ist.“ Auch bekenne ich offen, daß der Zweck meines Buches mindestens ebenso sehr war, bei den Lesern Begeisterung für deutsche Literatur zu wecken oder zu stärken, als das erdrückende Wissen von Literatur zu mehren.

Meine Quellen waren, wie selbstverständlich, die Werke, weniger die Schriften über die Werke; ich darf versichern, daß ich die Bücher, von denen ich rede, gelesen habe. Aber „die Materie ist ohne Grenzen“, sagte schon Goethe, als er nur seinen Plan erwog, über Friedrichs des Großen Schrift von der deutschen Literatur zu schreiben, und das war vor dem Ende des 18. Jahrhunderts! Die ungeheure Fülle des Stoffes macht es dem gewissenhaftesten Darsteller heute menschenunmöglich, alle lesenswerten deutschen Bücher zu lesen. Dies muß endlich einmal auch im Eingang einer Literaturgeschichte ehrlich gesagt werden.

Nicht auf die Menge der Namen kommt es an, nicht auf die Vollständigkeit auch des Mittelmäßigen, ja des Wertlosen; sondern wenn dem Leser nicht alle Hoffnung schwinden soll, einen Überblick über das Wertvolle, einen Leitfaden für das eigene Lesen zu gewinnen, so muß streng und immer strenger gesichtet werden. Aus der älteren Zeit ist alles wegzulassen, was nur zufällig nicht untergegangen ist und niemals lebendig oder wirksam war. In neuester Zeit wächst dem Geschichtschreiber der Stoff während des Schreibens von Tag zu Tag hinzu; aus diesem Büchermeer gibt es keine andre Rettung als den festen Vorsak, nicht einen Schriftstellerkalender mit sämtlichen Namen, sondern eine Geschichte nur der Literatur zu schreiben, die wenigstens für absehbare Zeit von einiger Bedeutung im Guten oder Schlimmen zu sein verspricht.

Die Notwendigkeit der Aussonderung zwingt auch zur Weglassung oder weniger eingehenden Behandlung solcher rein wissenschaftlicher Werke, die nicht durch ihren Kunstwert zur schönen Prosaliteratur gehören. Nur soweit Männer der Wissenschaft auch künstlerische Schriftsteller, nicht bloß Schreiber von gelehrten Büchern waren, gehören sie in eine Geschichte der Literatur, die sich an alle gebildeten Stände wendet. Dagegen halte ich es für die Pflicht der Literaturgeschichte, ungerecht übersehene und vergessene Schriftsteller oder einzelne Werke unabhängig von der Überlieferung nach Verdienst hervorzuheben. Der Leser wird fast in jedem Abschnitt solchen Versuchen begegnen, nie verjährendes Unrecht gut zu machen.

Die weitverbreitete Ansicht, daß es Nichtdichtern möglich sei, durch Gelehrsamkeit, durch immer mehr Gelehrsamkeit hinter das Geheimnis des Schaffens zu dringen, teile ich nicht. Goethe durfte den Wunsch und die Freude aussprechen, dichterische Werke „im Entstehen aufzuhaschen“, und an Schiller schreiben: „Ich möchte wissen, wie Sie in solchen Fällen zu Werke gegangen sind." Es war der Wunsch und die Freude des Künstlers dem Künstler gegenüber. Die Gelehrsamkeit täuscht sich und andere, wenn sie glaubt, dem Genius durch die Erforschung von Quellen, Strömungen und „Milieu" wesentlich näher zu kommen. Irgend ein Unerforschliches muß auch die Wissenschaft an der Kunst gelten lassen, und z. B. die Erforscher Goethes sollten seinen Ausspruch beherzigen: „In der Kunst und Poesie ist die Persönlichkeit alles.“

Auf den lebendigen Menschen kommt es an; hinter jedem großen Buche steht der ebenso wichtige große Mensch. Ich habe mich deshalb bemüht, nicht bloß von gedruckten Büchern zu reden, sondern ihre Verfasser als Menschen unter Menschen möglichst lebendig zu machen. Daher auch der Grundsak, jeden Schriftsteller als eine einheitliche Persönlichkeit einheitlich zu schildern, nicht an vielen weit auseinander liegenden Stellen. Hierzu gehören unter anderm viele Jahreszahlen. Der Leser braucht sie nicht auswendig zu lernen; sie sind aber unentbehrlich zur Vermenschlichung der Literatur, denn das Lebensalter, in dem ein Schriftsteller sein Werk geschaffen, ist die wichtigste von allen äußerlichen Kenntnissen über das Werk.

Daß ich der Literatur der Gegenwart einen bei weitem größeren Plaß einräume, als sonst Brauch, bedarf kaum der Rechtfertigung. Der Leser verlangt es, und der Leser hat Recht. Die deutsche Literatur hat weder 1832 noch 1870 aufgehört. Es geht nicht länger an, dem Meister Gottfried von Straßburg einen zehnmal so großen Raum zuzumessen wie dem Meister Gottfried Keller von Zürich, oder den Guten Gerhard des 13. Jahrhunderts ausführlicher zu besprechen als Gerhart Hauptmann. Und wozu wird die Literatur aller vergangener Jahrhunderte mit so unermüdlichem Eifer durchforscht,

wenn aus dieser steten Beschäftigung mit älteren Werken der Kunst nicht ein ernstes Urteil über die Literatur der Gegenwart erwüchse? Die Zukunft wird ja unsre Ansichten über die Gegenwart berichtigen; auf ein geschichtliches Urteil, wenn auch mit Vorbehalten, ganz zu verzichten, sind wir nicht gezwungen.

Daß in einem Werke wie diesem mancherlei Irrtümer in großen wie in kleinen Dingen unvermeidlich sind, das weiß der Leser wie der Verfasser selbst, der am tiefsten empfindet, „daß dem Menschen nichts Vollkommenes wird“. Ich habe mich gewiß mehr als einmal geirrt, in Tatsachen und in Urteilen. Für die Berichtigung von Tatsachen werde ich dankbar sein, an der Vervollkommnung meines Urteils werde ich unablässig arbeiten. Bestimmend für meine Darstellung der Dichtung der Gegenwart war nicht der Tageslärm, der sie umtost, sondern die ruhige Betrachtung ihres Wertes für Zeit oder Ewigkeit. Ich werde mich freuen, wenn recht viele in den letzten Abschnitten Getadelte oder absichtlich Ausgelassene durch künftige Meisterwerke mir Unrecht geben und mich zwingen, es in späteren Auflagen gutzumachen. Völlig unparteilich zu sein, verspreche ich nicht; ich nehme lebhaft Partei für alles Schöne und Große, wo immer ich es finde, und gegen alles Unkünstlerische und Nichtige, so berühmt es auch einige Monate oder Jahre sei.

Daß ich eine Geschichte der deutschen Literatur in möglichst reinem Deutsch zu schreiben unternahm, wird mir von den Verteidigern der Fremdwörter wohl nachgesehen werden. Ich glaube seit Jahren den Beweis der Tat geliefert zu haben, daß man sich auch über Kunstfragen mit verschwindend wenigen, jetzt noch unentbehrlichen Fremdwörtern verständlich ausdrücken kann.

Endlich habe ich Dank zu sagen, und ich tue es aus gerührtem Herzen, den Biblioheken, ohne deren Hilfe ein Buch wie dieses ja unmöglich ist. Herrn Otto Görik in Berlin, dessen umfangreiche, von der Reichshauptstadt übernommene Sammlung von Erstdrucken aus dem 16. bis 19. Jahrhundert das Lebenswerk eines deutschen Idealisten von seltener Art darstellt; der Königlichen Bibliothek, der Stadtbibliothek von Berlin mit ihrem kundigen Leiter und den hilfsbereiten Beamtinnen; der Großherzoglich Weimarischen und der Hamburgischen Stadtbibliothek. Herzlichen Dank auch allen lieben, verehrten und gelehrten Helfern bei der mühsamen Durchsicht der Druckbogen, und aufrichtigen Dank dem Herrn Verleger für die des Gegenstandes würdige Ausstattung.

Berlin, 1906.

Eduard Engel.

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