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Balthasar Bekker (1691), griff Thomasius die Grundlage des ganzen Herenprozesses an. Um Schlusse seiner Schrift heißt es: „Schließlich führen wir noch zur Regel an, daß, da das Verbrechen der Zauberei eine bloße fabelhafte Erdichtung ist, eine jede Landesobrigkeit das peinliche Verfahren in diesen Fällen einzustellen verbunden sei.“ — Auch gegen die Anwendung der folter im Strafverfahren hat sich Thomasius öffentlich ausgesprochen mit dem Erfolge, daß Friedrich der Große am dritten Tage seiner Regierung die folter für ganz Preußen abschaffte.

Mit wahrer Begeisterung hat ferner Thomasius, in dieser rückhaltlosen Form sicherlich der erste deutsche Schriftsteller, den Grundsah der Freiheit der wissenschaftlichen Forschung ausgesprochen:

Soll ich es in einem Worte sagen, es ist die ungebundene Freiheit, ja die Freiheit ist es, die allem Geist das rechte Leben giebt, und ohne welche der menschliche Verstand, er möge sonsten noch so viele Vorteile haben, gleichsam tot und entseelt zu sein scheint. Der Verstand erkennt keinen Oberherrn als Gott. Darum ist ihm entweder das Joch, das man ihm aufbürdet, wenn man ihm eine menschliche Autorität als eine Richtschnur vorschreibe, unerträglich, oder aber er wird zu allen guten Wissenschaften ungeschickt.

Noch durch einen andern Zweig seiner Tätigkeit, eine Art von Liebhaberei, ist Christian Thomasius für die Geistesgeschichte Deutschlands von außerordentlicher Bedeutung geworden: er ist als der eigentliche Begründer des deutschen Zeitschriftenwesens anzusehen. Ein wenig, um sich an seinen feindseligen Standesgenossen in Leipzig zu rächen, dann aber auch, um sich allerlei von der Seele zu schreiben, was er in der herkömmlichen wissenschaftlichen form nicht wohl hätte sagen können, gründete Thomasius seine eigene Zeitschrift in Monatsheften: freymütige, jedoch vernunft- und gesetzmäßige Gedanken über allerhand lustige und nützliche Bücher und Fragen“, die sogenannten Monatsgespräche, deren beide Jahrgänge 1688 und 1689 herauskamen und 1690 in Halle gesammelt erschienen. Wir haben es hier mit einem der sehr seltenen Fälle zu tun, wo die deutsche Literatur des Jahrhunderts ganz selbständig etwas Neues schuf; denn die älteste moralische Zeitschrift der Engländer, der Tatler von Steele, ist erst zwanzig Jahre später erschienen. Mit Rührung durchblättert man die beiden vergilbten Bände jener ersten deutschen Zeitschrift in deutscher Sprache und liest in der Vorrede zum zweiten Jahrgang, daß sie gerichtet sei „gegen die Pedanterei und Heuchelei, die den Titel der Gelehrtheit und Tugend mißbrauchen“. Schiller hat diese Seite des Thomasius bezeichnet als „das Loswinden eines Mannes von Geist und Kraft aus der Pedanterei des Jahrhunderts“.

Gleich im ersten Stück des ersten Jahrganges hatte sich Thomasius über die „Tartüffes“ lustig gemacht. In den Monatsgesprächen behandelte er auch wichtige neu erschienene Bücher und legte somit den Grund zur deutschen öffentlichen Kritik. Sein Stil ist nicht gerade der beste, er ist viel zu weitschweifig; dazwischen aber überraschen humorvolle Wendungen, wie sie bis dahin in der strengen Sprache deutscher Wissenschaft unerhört gewesen waren. Indem Thomasius auch die schöne Literatur in die wissenschaftliche Erörterung zog, bewies er, daß bloße Gelehrsamkeit noch lange nicht den Begriff höherer Bildung ausfülle. Ging er doch so weit, in der übermütigsten Weise Aristoteles zu verspotten, den Menschen wie den Philosophen, was für die damalige Gelehrtenwelt nahezu gleichbedeutend war mit Gotteslästerung, jedenfalls mit Majestätsbeleidigung. Unter solchen Umständen wird uns der Haß der Leipziger Fakultät gegen den Erzrebellen Thomasius verständlich. Dieser setzte sich überdies mit seinen deutschen Monatsgesprächen in den schroffsten Gegensatz zu der einzigen schon bestehenden wissenschaftlichen Zeitschrift, die aber für die deutsche Literatur nicht mitzählte, da sie lateinisch geschrieben war: zu den seit 1682 in Leipzig erscheinenden Acta Eruditorum (Verhandlungen der Gelehrten), eine Nachahmung des französischen Journal des Savants. Die Acta Eruditorum haben bis tief ins 18. Jahrhundert hinein mit dünkelhafter Abweisung alles totgeschwiegen, was nach der Auffassung des Herausgebers und der Mitarbeiter nicht gelehrt" war; nie wird der Name eines deutschen Dichters

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in ihnen erwähnt, bis endlich mit Cohenstein, später mit Christian Günther eine Ausnahme gemacht wurde.

An die Betrachtung der Wirkung dieses ersten deutschen Journalisten der neueren Zeit schließt sich die des Philosophen Leibniz, nicht nur wegen deffen Tätigkeit im Dienste wissenschaftlicher Aufklärung und Befreiung von den Feffeln der Theologie, sondern in eine Geschichte deutscher Literatur gehört er hauptsächlich, ja ausschließlich durch seine Teilnahme an den Sprachbestrebungen des Jahrhunderts. Gottfried Wilhelm Leibniz, 1711 zum Freiherrn gemacht, wurde am 3. Juli 1646 in Leipzig, gleich Thomasius als Professorsohn, geboren, hat von 1676 ab als freier Mann der Wissenschaft und Bibliothekar in Hannover gelebt, 1700 die Leitung der Berliner Akademie der Wissenschaften übernommen, deren Gründung durch ihn veranlaßt worden war, und ist in Hannover am 14. November 1716 gestorben.

Wir haben es hier nur mit zwei ausnahmsweise deutsch geschriebenen Schriften Leibnizens zu tun: seiner „Ermahnung an die Deutschen, ihren Verstand und Sprache besser zu üben (samt beigefügtem Vorschlag einer teutschgesinnten Gesellschaft“), 1680, einem wahren Jubelruf auf Deutschlands angeborne Herrlichkeit, — und den noch wichtigeren „Unvorgreiflichen Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache“ (um 1703), zuerst von Gottsched 1738 veröffentlicht. Leibniz ist aller Wahrscheinlichkeit nach hierzu durch Schottels Werk „Von der deutschen Hauptsprache“ (vgl. S. 261) angeregt worden. Mit einer Herzenswärme, die sich sonst bei ihm selten findet, spricht er sich in dieser Schrift über die tiefen Schäden der deutschen Sprachbildung aus und hält nicht mit seinen Vorschlägen zur Besserung zurück. Über die sprachliche Verwilderung der Deutschen, die er „fremdgierigliche Affen“ nennt, gebraucht er sehr starke Ausdrücke, so z. B. in dem Stoßfeufzer: „Wollte Gott, es wäre jedesmal unter zehn teutschen Büchern eines, so ein Fremder ohne Lachen, ein Patriot ohne Zorn lesen könnte." Nichts wissen will er von der „allzu großen Scheinreinigkeit der Rein-Dünkler“, wobei er wohl an gewisse Seitensprünge Zefens gedacht hat. Dagegen ist er wie alle Deutschgesinnten seiner Zeit durchdrungen von der Notwendigkeit, den Adel und die Reinheit „unserer Haupt- und Heldensprache“ zu wahren, „weil die Annehmung einer fremden Sprache gemeiniglich den Verlust der Freiheit und ein fremdes Joch mit sich geführet." Die schönste und auch für unsere Zeit noch in voller Geltung stehende Ausführung in Leibnizens Schrift lautet:

Daher ich bei denen Italienern und Franzosen zu rühmen gepfleget: Wir Teutschen hätten einen sonderbaren Probierstein der Gedanken, der Undern unbekannt; und wann sie denn begierig gewesen, etwas davon zu wissen, so habe ich ihnen bedeutet, daß es unsere Sprache selbst sei; denn was sich darin ohne entlehnte und ungebräuchliche Worte vernehmlich sagen lasse, das seye würklich was Rechtschaffenes; aber leere Worte, da nichts hinter, und gleichsam nur ein leichter Schaum müßiger Gedanken, nehme die reine teutsche Sprache nicht an.

So schließt denn das 17. Jahrhundert ab, wie es bei seiner ersten wichtigen Kundgebung, der Gründung der fruchtbringenden Gesellschaft, begonnen hatte, mit einem lauten Mahnruf zur Wahrung eines Heiligtums jeder Nation: der Reinheit der Muttersprache. In den hierauf gerichteten Bestrebungen liegt das Gemeinsame und das Rettende der Literatur, ja der gesamten höheren deutschen Geisteskultur des 17. Jahrhunderts. In einem Zeitalter, in dem alle führenden Stände beinah das Bewußtsein deutschen Wesens eingebüßt hatten, als mit drohendem Ernst die Gefahr sprachlicher Hörigkeit unter Frankreich heraufzog, hat die verachtete deutsche Literatur, haben die Schriftsteller und Dichter, sie allein, dem Vaterlande seine Sprache gerettet, mit ihr die Möglichkeit einer höheren Geisteskultur in den anbrechenden glücklicheren Zeiten. Wie sich aus der vorangegangenen Darstellung der Literatur des Jahrhunderts ergibt, haben alle Schriftsteller von irgend welcher Bedeutung, selbst die geistlichen Dichter, durch Wort oder Tat oder beides für das Deutschtum in Lebensführung, Sprache und Dichtung gewirkt. Bei ihnen allen war das

Bewußtsein lebendig, daß es gerade jetzt drauf ankäme, Deutschlands Ehre wenigstens in seiner Sprache zu retten.

Freilich muß von der Schriftstellersprache des Jahrhunderts gesagt werden: mehr als je zuvor, mehr auch als je seitdem ist sie Papiersprache gewesen, von der Sprechsprache des Lebens losgelöste Büchersprache. Die ganze schriftstellerische Kunst jener Zeit macht den Eindruck der Stilisierung. Man kann geradezu die Entwickelung seit dem 17. Jahrhundert bis heut als die allmähliche Befreiung von jener Stilisierung, ihre immer größere Unähnlichung an die edelste Form der lebendigen Sprache der Gebildeten bezeichnen. Hiermit hängt zusammen der Mangel an Volkstümlichkeit des größten Teils aller im 17. Jahrhundert gedruckten Bücher, mit der einzigen Ausnahme des geistlichen Liedes und des auf Flugblättern gedruckten Volksliedes. Nicht einmal Grimmelshausen ist wahrhaft volks. tümlich gewesen, und Moscherosch hat nur in einer Schrift, die überdies einsam in dem ganzen Jahrhundert dasteht: in dem „Christlichen Vermächtnis an seine Kinder" die Sprache des wirklichen Lebens ohne alle pedantische Verschnörkelung, ohne den Aufpuß der so lästigen Belesenheit und Gelehrsamkeit gesprochen.

Leise aber beginnt sich im 17. Jahrhundert die dichterische Persönlichkeit zu regen. Schon Gryphius in einigen Sonetten, dann mit größerer Kühnheit Paul Flem ming sie sprechen nicht nur von sich selber, sondern es tritt bei ihnen die Verschmelzung der Person mit ihrer Dichtung auf: eine den Zeitgenossen noch nicht erkennbare Neuerung, die aber uns Rückschauenden als die Morgendämmerung persönlicher Literatur erscheint, wie wir sie bald darauf, schon früh im 18. Jahrhundert, zuerst in Christian Günther mit staunender Bewunderung genießen.

Hervorgebracht hat unser 17. Jahrhundert an bleibenden Bereicherungen der deutschen, ja der Weltliteratur vor allem das geistliche Erbauungslied nach dem kirchlichen Kampfliede der Reformationzeit. Die Dichtersprache hat es geschliffen und zugespißt zu der sinnvollen Feinheit Logaus; es hat, wie uns Christian Weises Komödien zeigen, wenigstens einen lebendigen Stil des deutschen Lustspiels geschaffen, wenn auch noch nicht dessen höheren Gehalt. Ein Dichter und ein wissenschaftlicher Journalist: Spee und Thomasius, haben jeder auf seine Art mit der schwärzesten Schande des Jahrhunderts, seiner Verteufelung durch den Herenprozeß, aufgeräumt, Thomasius obendrein die Ketten der lateinischen Knechtschaft wie der theologischen Oberhoheit über die Wissenschaften zerbrochen und durch die Gründung einer deutschen Monatschrift eine ganz neue Geistesmacht neben den weltlichen Gewalten geschaffen.

Das Wertvollste aber, ja das Unentbehrlichste für die Entfaltung unserer Literatur im 18. Jahrhundert ist diesem gleichfalls durch die nicht vergebliche Arbeit der besten Männer des vorangegangenen Zeitalters überliefert worden: eine Literatursprache für Vers und Prosa, noch eingeschnürt durch die eisernen Reifen des Regelwerks seit Opitzens Tagen und durch die Mode der Gelehrsamkeit, aber doch schon eine Sprache, die keinen wahrhaften Dichter und Schriftsteller mehr hinderte, alles Geschaute und Empfundene kunstvoll und wirksam auszusprechen.

Siebentes Buch.

Des 18. Jahrhunderts erste Hälfte.

1. Die Zeit der Vorbereitung.

Don Gottsched zu Klopstock.

Die Könige Preußens im 18. Jahrhundert: Friedrich I. als König 1701-1713, - Friedrich Wilhelm I. 1713—1740, Friedrich II. 1740–1786, Friedrich Wilhelm II. 1786-1797.

Die Kaiser des Hauses Österreich: Joseph 1. 1705-1711, Karl VI. 1711–1740, Maria Theresia 1740–1780, Joseph II. 1780–1790, Leopold II. 1790—1792, Franz II. 1792—1835.

Kurfürst August von Sachsen (der Starke) wird 1697 König von Polen.

Die Schlesischen Kriege Friedrichs II. 1740–1742 und 1744—1745. Der Siebenjährige Krieg 1756-1763. Schlacht bei Roßbach 5. November 1757.

D

Erstes Kapitel.

Einleitung: Die öffentlichen Zustände und die Literatur.

Die Jahrhunderte der politischen Geschichte Deutschlands fallen mit denen der Literaturgeschichte zu keiner Zeit ganz zusammen, am wenigsten in dem nunmehr vor uns liegenden achtzehnten Jahrhundert. Für Deutschlands äußere Geschicke bildet die Erhebung des Kurfürstentums Brandenburg zum Königreich Preußen (1701) einen sich mit den herkömmlichen Einteilungen der Weltgeschichte deckenden Einschnitt; für die Entwicklung der deutschen Literatur beginnt das 18. Jahrhundert eigentlich mit dem Jahre 1748: der ersten Veröffentlichung einiger Gesänge von Klopstocks Messias. fast alles, was vor diesem Jahr ans Licht getreten ist, atmet noch Literaturgeist des 17. Jahrhunderts, ganz vereinzelte Ausnahmen wie Christian Günther abgerechnet.

Noch für mehr als ein Menschenalter fehlt aller deutscher Dichtung der Schwungfittich eines stolzen vaterländischen Bewußtseins. Kaum je zuvor war das sogenannte Deutsche Reich auf einen solchen Tiefstand der Macht und des Ansehens unter den Völkern gesunken, wie in dem halben Jahrhundert seit den Raubzügen Frankreichs gegen das Elsaß und die Pfalz. Der Ohnmacht des Reiches und der Würdelosigkeit seiner Fürsten in der Verteidigung deutschen Bodens gegen das Ausland stand als unvermeidliche Folge gegenüber die Gleichgültigkeit des deutschen Volkes in allen Fragen vaterländischer Ehre. Woher sollte den Deutschen Vaterlandsgefühl kommen, wenn Kaiser und Reich nicht einmal den Raub deutscher Lande hindern konnten noch wollten? Die ungeheuren Verluste an Bevölkerung durch den dreißigjährigen Krieg waren in dem halben Jahrhundert seit dessen Beendigung beinah ausgeglichen; der Verlust an Vaterlandsgefühl schien nicht wieder gutzumachen. Während an den Grenzmarken des Reiches die Feinde drohten, die Türken im Osten, — und nicht bloß drohten, sondern offne Gewalttat verübten, wie Ludwig XIV. gegen Straßburg (1681), führten die deutschen Kurfürsten auf den Reichstagen erbitterten Streit über die Vorrechte ihrer Gesandten vor einander, zum Beispiel darüber, ob der Stuhl dieses oder jenes Gesandten auf demselben Teppich wie der des kaiserlichen Gesandten stehen solle. Oder es stritten sich Sachsen-Gotha und Sachsen-Weimar vor dem Beschluß

über das Einschreiten gegen die Türkengefahr, wer von ihnen beiden zuerst abstimmen solle, wodurch die Verhandlungen des Reichstags viele Wochen lang aufgehalten wurden. Einer der wenigen hervorragenden politischen Schriftsteller, die Deutschland im 18. Jahrhundert überhaupt aufzuweisen hat, Friedrich Karl von Moser, der in seiner kleinen Schrift „Von dem deutschen Nationalgeist“ (1766) jene „nichtswürdige“ Streiterei berichtet, schreibt ganz ähnlich wie hundert Jahre zuvor Samuel Pufendorf (vgl. S. 310) vom Deutschen Reich: „Schon Jahrhunderte hindurch find wir ein Rätsel politischer Verfassung, ein Raub der Nachbarn, ein Gegenstand ihrer Spöttereien, uneinig unter uns selbst, kraftlos durch unsere Trennungen, stark genug, uns selbst zu schaden, ohnmächtig uns zu retten, unempfindlich gegen die Ehre unseres Namens, ein großes und gleichwohl verachtetes, ein in der Möglichkeit glückliches, in der Tat selbst aber sehr bedauernswürdiges Volk." So unaussprechlich elend waren die öffentlichen Zustände nahezu in ganz Deutschland, daß - sie nicht einmal zur Satire reizten! Weder bei Rabener noch bei Liskow, den beiden hauptsächlichen Vertretern der Satire im ersten Halbjahrhundert, noch selbst bei Lessing, dem unerbittlichen Züchtiger aller andern geistigen Gebrechen seines Volkes, findet sich eine Spur von politischer Satire, ja kaum von Beschäftigung mit nichtliterarischen öffentlichen Angelegenheiten. Und von Gottsched fand Danzel, der die folianten seines Briefwechsels genau durchmusterte, in beinah fünftausend Briefen kaum eine einzige Berührung politischer Gegenstände. Kein Mensch in Deutschland, wenigstens keiner, der die feder rührte, empfand es als eine Schmach, daß im Norden die Schweden deutsche Gebiete, Pommern und Rügen, an sich gerissen hatten und als gleichberechtigte Macht auf den deutschen Reichstagen mitsprachen. Politisch zufrieden lebten die wackersten Männer unter einem Zustande, der ein Land mit nicht viel weniger als 30 Millionen Menschen, mit 2300 Städten und 100000 Dörfern zu größerer Ohnmacht verurteilte, als irgend ein anderes, volksärmeres europäisches Land. Deutschland in allen seinen Schichten führte ein politisches Pflanzenleben, und an seinen nahezu dreihundert „souveränen“ Höfen herrschte mit seltenen Ausnahmen ebenso wenig politischer Geist, soweit er nicht mit der Vergrößerung der eigenen „Souveränetät“ beschäftigt war, die sich in mehr als hundert Fällen auf eine Viertel- bis zu einer ganzen Geviertmeile erstreckte.

Dieser im Leben eines großen Volkes unerhörte Zustand hat bis weit über die Mitte des Jahrhunderts hinaus gedauert, bis zur französischen Revolution. Wohl wurde durch die Heldentaten Friedrichs des Großen der Stolz der Schriftsteller auf den deutschen Namen mächtig gesteigert; zu einer persönlichen Beteiligung aber an den Angelegenheiten des gemeinsamen deutschen Vaterlandes ist es nicht gekommen. Noch im Jahre 1767 konnte Herder ohne furcht vor einem Widerspruch schreiben: „Keine Hauptstadt und kein allgemeines Interesse: kein großer allgemeiner Beförderer und allgemeines gesetzgeberisches Genie." Geistiges Leben hieß ausschließlich Beschäftigung mit Religion, Literatur und Kunst.

Die deutschen Fürstenhöfe kamen bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts für die Dichtung, ja überhaupt für die geistige Bildung kaum inbetracht. Eine österreichische Literatur von Bedeutung gab es damals noch nicht, und ohne Übertreibung heißt es bei Nicolai im Jahre 1761: „Österreich hat uns noch keinen einzigen Schriftsteller gegeben, der die Aufmerksamkeit des übrigen Deutschlands verdienet hätte." Licht viel Besseres ist von dem ganzen Süden Deutschlands zu melden.

Für die deutsche Bildung zählten ja die meisten deutschen Höfe schon deshalb nicht mit, weil sie nur die äffischen Nachahmer des franzosentums, genauer gesprochen des Versailler Hofes, waren. Je lächerlich winziger ein deutscher Quadratmeilendespot unter den dreihundert deutschen Souveränen dastand, desto genauer wiederholte er das Beispiel des großen französischen Machthabers in Sprache, Hofsitte und Hofbelustigungen, bis zu der amtlich beglaubigten Mätresse. Die Bildung der deutschen Fürsten beschränkte sich, mit äußerst seltenen Ausnahmen, auf Französischsprechen und Französischlesen, dieses aber

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