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Während es sich in jedem andern Lande hoher Geistesbildung von selbst versteht, daß auch anfängerische Schriftsteller die Muttersprache mit einer gewissen Kunst, jedenfalls ohne offenbare Fehler schreiben, kann man in Deutschland mit recht bedenklichem Deutsch noch für einen namhaften Schriftsteller gelten. Es gibt bei uns Männer in angesehenen Stellungen, deren gesprochenes wie geschriebenes Deutsch weit unter ihrer sonstigen Bildung zurückbleibt. Kommen doch selbst in der Deutschen Reichsverfassung und in den meisten Geseßen grobe Verstöße gegen Grundregeln des guten Stils, ja der einfachen Sprachrichtigkeit vor. Eine rühmliche Ausnahme macht das deutsche bürgerliche Gesetzbuch. Gewöhnlich schiebt man die Schuld an diesem beklagenswerten Zustand unserer Sprachbeherrschung auf die Zeitungsprache. Mit Unrecht: die deutsche Amtsprache fündigt weit ärger und mit geringerer Entschuldigung als die deutsche Presse; auch zeigt sich in vielen unserer großen und mittleren Zeitungen neuerdings ein bewußtes Streben nach edler und reiner Sprache, wovon in der Behördensprache erst schwache Anfänge zu bemerken sind. Von jeher war die deutsche Kanzleisprache weitschweifig und pedantisch, und alte Überlieferungen sind schwer auszurotten. Aus der Behördensprache, nicht aus der Presse stammt die immer noch zunehmende Wortmacherei und Verwässerung, wie sie sich u. a. in folgenden Wendungen zeigt: Inhaftnahme statt Verhaftung, Rückäußerung statt Antwort, in Einnahme bringen statt einnehmen, zur Verlesung schreiten und zur Mitteilung bringen statt verlesen und mitteilen, zu wiederholten Malen statt wiederholt oder oft, und was dergleichen amtliche Breitspurigkeiten mehr sind.

Mit vaterländischer Freude kann man feststellen, daß gegen die Verwässerung und Verwüstung der deutschen Sprache durch alle schreibenden Klassen seit geraumer Zeit ein starker Damm aufgerichtet ist in dem Allgemeinen deutschen Sprachverein. Er hat seit der Begründung im Jahre 1885 geradezu erstaunliche Erfolge geerntet und hat selbst den Gegnern oder Entstellern seiner Bestrebungen genügt, wie weiterhin gezeigt werden soll. Vor allem hat er das Sprachgewissen der Gebildeten geschärft: sie erkennen mehr als früher die Notwendigkeit, richtiges und reines Deutsch zu schreiben, bemühen sich auch darum, sind aber im allgemeinen noch nicht viel weiter gekommen, als die Verstöße gegen Sprachrichtigkeit und den Gebrauch überflüssiger fremdwörter zu tadeln — bei den Andern, dagegen ihre fehlerhaften Eigenheiten für Freiheiten und jedes ihrer Fremdwörter für unentbehrlich zu halten.

Die Schäden am Leibe der deutschen Sprache, die der Sprachverein bekämpft, sind mannigfach: einer der ärgsten ist leider immer noch die Fremdwörterei. Entlehnungen aus fremden Sprachschäßen hat das Deutsche wie alle neueren Sprachen seit unvordenklichen Zeiten vorgenommen. Der Unterschied zwischen der uralten und der neuzeitlichen Aufnahme fremdsprachiger Wörter besteht darin, daß der Sprachsinn der Vorfahren zu rege und zu fein war, um fremde Wörter in ihrer fremden form zu dulden. Man entlehnte, aber man formte um; fremdwörter mit fremdgebliebenem Lautwesen kommen im Althochdeutschen überhaupt nicht vor. Hiernach muß man unterscheiden: uralte Lehnwörter, d. h. vollkommen eingedeutschte Wörter fremder Sprachen, und fremdgebliebene Wörter, die eigentlichen Fremdwörter. Uralte Lehnwörter sind z. B.: Kirche, Kaiser, Prinz, Kreuz, Zirkel und Bezirk, Krone, Kerker, Zoll, Straße, Meile, Kelter, Kiste, Trichter, Mauer, Pforte, Pfosten, Pfeiler, Speicher, Koch und Schüssel, Kanzel, Kloster, Schule, Orgel, Mönch und Nonne, Abt, Arzt, Essig und Öl, Vogt, Meister, alle Zusammensetzungen mit der Vorsilbe Erz und reichlich zweihundert andere. Gegen die Beibehaltung all dieser Lehnwörter hat nie ein vernünftiger Sprachreiniger etwas eingewandt, auch nicht der verlästerte und verleumdete Philipp von Zesen. Das Eindringen der fremdbleibenden Fremdwörter ist aber so alt, daß man wirklich an eine unvertilgbare Neigung der Deutschen, zumal der Schriftsteller, für die Durchwirkung ihres Redegewebes mit fremden Sprachfäden glauben muß. Gotfrid von Straßburg schreibt mit offenbarer Billigung von seinem Helden Tristan:

Der hôvesche hovebaere
Lie siniu hovemaere

Und fremediu zabelwortelîn
Underwilen fliegen în:

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Thomasin der Zirkläre empfiehlt geradezu die „Streifelung“ des Deutschen mit welschen Wörtern, und in der höfischen Versromandichtung vermied man die alten deutschen Heldenwörter wie Recke und Degen und erseßte sie, die für unhöfisch galten, durch die vornehmeren französischen Ausdrücke. Aber schon in den ältesten Zeiten unserer Literatur rührte sich auch die Verspottung der Fremdwörterei: Tannhäuser der Minnesinger dichtete Lieder mit absichtlicher Häufung der fremdwörter, offenbar um sie lächerlich zu machen, und in der ältesten deutschen Dorferzählung, dem Meier Helmbrecht, wurde die mit Brocken aus fremden Sprachen durchsetzte Rede des heimkehrenden Taugenichts von Sohn dem Spotte preisgegeben. Am ärgsten hat die Fremdwörterseuche gewütet seit den Zeiten der Humanisten, die sich sogar ihrer deutschen Familiennamen schämten und sie ins Lateinische oder Griechische übersetzten. Seitdem hat die Aufnahme immer neuer fremdwörter derart fortgewuchert, daß in Deutschland, hierin einzig unter allen Völkern, Fremdwörterbücher notwendig wurden, die es bis zu siebzigtausend wirklich gebrauchten Wörtern gebracht haben.

Seit Jahrhunderten, seit dem Anfange des 17. Jahrhunderts mit nie wieder ganz verfiegender Kraft, hat gegen die Sprachverwelschung die Sprachreinigung angekämpft. Dieser noch fortdauernde Kampf hat sich vollzogen durch groben und feinen Spott des Häufleins der Sprachreiniger über das Massenheer der Fremdwörtler, durch Hohn der Fremdwörtler über die Sprachreiniger. Die Geschichte der deutschen Sprache beweist unwiderleglich, daß die Sprachreiniger, nicht die Fremdwörtler auf die Länge obgesiegt haben; denn selbst die ärgsten Fremdwörtler bedienen sich der von ihren Vorgängern verspotteten, jetzt unentbehrlich gewordenen Sprachbereicherungen der verachteten „Puristen". Es gilt heute nicht mehr, zu spotten oder zu verachten, sondern dankbar anzuerkennen, daß die neuhochdeutsche Sprache viele Hunderte ausgezeichneter kerndeutscher Wörter an die Stelle der von den Spöttern und Verächtern ehemals für unersetzbar gehaltenen Fremdwörter aufgenommen hat. Ohne die kühnen Verdeutschungen der Sprachreiniger seit dem 17. Jahrhundert würden wir u. a. folgender Ausdrücke entbehren: Dichtkunst, Sprachlehre, Gemeinwesen, Zahlwort und Zeitwort, Beschaffenheit, Gegenstand, Lehrsah, Leidenschaft, Schluß (Schlußsak). Aus dem 17. Jahrhundert, zum Teil von Zesen, rühren Verdeutschungen her wie: Staatsmann, Verfasser, Mundart, Wörterbuch, Lustspiel. Erst nach des Thomasius Vorgang sagen wir Absicht statt Intention; erst seit Leibniz gibt es einen Gesichtspunkt statt des früher ausschließlichen point de vue; erst seit Christian Wolf hat Verhältnis die früher für unentbehrlich gehaltene proportio abgelöst. Natürlich haben alle diese Verdeutschungen zu ihrer Zeit denselben Philisterspott hervorgerufen, wie viele vortreffliche Verdeutschungen des letzten Menschenalters, als sie zuerst gewagt wurden. Christian Wolf hat auch zuerst Bewußtsein für conscientia geschrieben und Vorstellung für idea. Ein Wort wie Ergebnis gehört der deutschen Sprache erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts an; vordem glaubten die Fremdwörtler, ohne Resultat nicht schreiben zu können. Ja selbst das Gefühl ist erst 150 Jahre alt; früher galt sentiment für unentbehrlich. Aus derselben Zeit stammen auch Entwicklung und das von Lessing in einem Brief an den Überseher von Sternes Sentimental journey, Bode, 1768 vorgeschlagene empfindsam, worüber Lessing sagte: „Wagen Sie es . . . Was die Leser fürs erste bei dem Worte noch nicht denken, mögen sie sich nach und nach dabei zu denken gewöhnen.“ Hiermit hat Lessing das Geheimnis aller echten Sprachverbesserung enthüllt. Nach der Mitte des 18. Jahrhunderts verwarf Gerstenberg das damals neue Wort Gegenstand und zog Objekt vor, bemerkte aber auch: „Freilich wird man mit der Zeit sich daran gewöhnen.“

Einer der eifrigsten aber auch erfolgreichsten und natürlich meistverspotteten Sprachreiniger des 18. Jahrhunderts war Campe, der Verfasser des Neuen Robinsons. Auf ihn find reichlich hundert vortreffliche Neuschöpfungen zurückzuführen. Die spottende Mit- und

Engel, Deutsche Literaturgeschichte. I.

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Nachwelt hat vergessen, daß Campe Wörter wie Zartgefühl statt der früher angeblich unersetzbaren Délicatesse, daß er ursächlich, verwirklichen, gegenständlich, das letzte ein Modewort für Goethes dichterische Art, und viele andere zuerst geprägt hat. Er hat ein dem Deutschen Sprachverein sehr ähnliches Schicksal mit seinen Reinigungen erlebt: die Schriftsteller verhöhnten ihn, Goethe verwarf seine Bestrebungen, aber in Wahrheit folgten selbst die Größten der durch Campe in Bewegung gesetzten Strömung, ganz so, wie die Unterzeichner einer feierlichen Erklärung gegen den Deutschen Sprachverein, Gustav Freytag voran, bei einer späteren Neubearbeitung ihrer Werke Hunderte von Fremdwörtern ausgemerzt haben. Auch Goethe und Schiller haben ihre Werke von Auflage zu Auflage nach Campes Grundsäken gereinigt.

Unter den neueren Sprachen gibt es schwerlich eine reichere als die deutsche. Sollte das Grimmsche Wörterbuch gegen alle Wahrscheinlichkeit jemals fertig werden, so würde es etwa eine halbe Million Wörter enthalten und noch sehr unvollständig sein, wogegen die größten französischen Wörterbücher wenig über 100.000, die englischen nur etwa 120.000 enthalten. Wenn irgendeine Sprache der vermeintlichen Bereicherung durch Fremdwörter entbehren kann, dann sicherlich die deutsche. Unübersehbar ist die Zahl der feinen Abschattungen vieler Urbegriffe, bei weitem größer als im Lateinischen und selbst im Griechischen. Und wieviel schöne Wörter find uns allein seit dem 18. Jahrhundert verloren gegangen. Wieviele sind durch die unselige Fremdwörterei totgeschlagen worden. Die deutsche Sprache kennt keine Grenzen der Ausdrucksfähigkeit; sie vermag in die unzugänglichsten Abgründe des Denkens und Fühlens hinunterzusteigen; sie ist zugleich die Sprache der zartesten Lyrik und des die Wirklichkeit schrankenlos überfliegenden Gedankens. Darum ist sie auch die erste Übersetzungsprache der Welt. Man beachte nur solche Seitenschazkammern der deutschen Sprache wie die lieblichen Blumennamen; eine solche Fülle dichterischer Bezeichnungen: Himmelschlüssel, Stiefmütterchen, Männertreu, Vergißmeinnicht, Jelängerjelieber, Frauenschuh, Goldregen, Rittersporn, Königskerze, Edelweiß und hundert mehr besitzt keine andre Kultursprache. Und dann unser Reichtum an schönen und bedeutungsvollen männlichen wie weiblichen Vornamen eigenen Gewächses, nicht dem Heiligenkalender entlehnt. Auch die den fremden und zuweilen den Deutschen selbst als überflüssige Erschwerung lästigen drei Geschlechter, die noch erhaltenen vier Beugefälle des Hauptworts, die Mannigfaltigkeit in der Beugung des Eigenschaftswortes lauter nur dem Deutschen unter den großen Literatursprachen eigene Formen tragen zum Reichtum, wenn auch zur Schwierigkeit fehlerfreier Beherrschung der deutschen Sprache bei. Der Reichtum einer Sprache darf allerdings nicht allein und nicht vornehmlich nach dem Umfang der Wörterbücher, sondern nur nach der lebendigen Verausgabung des Wortschatzes gemessen werden: Was reich und arm! Was stark und schwach?

Ist reich vergrab'ner Urne Bauch?

Jst stark das Schwert im Arsenal?

fließt, Gottheit, von dir aus!

Faß an zum Siege, Macht, das Schwert,
Und über Nachbarn Ruhm!

(Goethe: Die Sprache.)

Greif milde drein, und freundlich Glück Eine der unerschöpflich sprudelnden Quellen des deutschen Sprachreichtums ist ihre schier unbegrenzte Fähigkeit der Leuschöpfung durch Zusammensehung. Nur das Sanskrit, kaum das Griechische, kommt hierin dem Deutschen gleich; doch erstreckt sich diese Art der Neuschöpfung im Deutschen auch auf die Alltagsprache, von der wir keine Proben aus der altindischen Literatur besizen. Was kann nicht alles im Deutschen zu einem Wort verschmolzen werden! Wörter wie stockfinster, blitzwenig, wunderhold, kreuzunglücklich, Übermensch und übermenschlich, blutjung, grundschlecht, Schriftsteller, wehklagen, schweifwedeln sind noch sehr einfach. Man ist aber auch zu so vielgliedrigen Wörtern gekommen wie Außerkurssetzung, Losvonrombewegung, und die papierene Behördensprache hat Ungetüme wie Einkommensteuereinschätzungsunterkommission oder gar noch längere gebildet. Aber auch bei Goethe begegnen wir einem Worte wie liebehimmelswonnewarm. Grimms Wörterbuch enthält 510 Zusammensetzungen mit Geist, 730 mit Land, 122 mit Gemüt, 144 mit Bier, 287 mit Liebe, und sicherlich könnten diese Abschnitte noch um Hunderte von Zusammensekungen vermehrt werden.

Unter den neueren Sprachen ist die deutsche die bilderreichste, nicht nur bei den Dichtern, nein auch in der schlichten Allerweltsrede. Wieviel Bildliches steckt allein in der Dreigeschlechtigkeit des deutschen Hauptwortes. Leider droht in unserer Zeit das Heer der unsinnlichen Wörter, derer auf ung, heit, keit, igkeit, die sinnlichen Kernwörter ohne diese Endungen zu überwuchern, je mehr unsere Schriftsteller sich vom papierenen Stil beherrschen lassen.

Während das französische und Englische, ebenso das Italienische und Spanische längst in ihren Formen erstarrt sind, aber auch die Gefühlswerte ihres Wörterschatzes kaum merklich wandeln, ist das Deutsche in immerwährendem fluß. Schon das innere formenleben der deutschen Wörter, zumal der Hauptwörter, ist unendlich stärker als in den andern großen Literatursprachen. Der Umlaut in der Beugung des Hauptworts, der Ablaut beim Zeitwort, so mannigfaltige Mehrzahlbildungen wie Wege, Bäder, Stuben, Löffel, Rinder find nur dem Deutschen eigen. Dazu die binnen eines Menschenalters fich wandelnde Bedeutungsfarbe wichtiger Wörter. Dieses unvergleichliche Leben der deutschen Sprache macht ihre Zügelung durch irgendwelche Sprachbehörde, etwa nach dem Muster der französischen Akademie, unmöglich. Goethes Ausspruch: „Das Gesetz nur kann uns Freiheit geben“ scheint auf die deutsche Sprache nicht anwendbar. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts wäre eine deutsche Sprachakademie möglich gewesen; Adelung hat ja durch seine Lehr- und Wörterbücher beinah wie eine Akademie gewirkt. Nicht zum Segen für die Sprache, denn er war vor den Brüdern Grimm einer der letzten, die von einem Leben der Sprache nichts wußten, sondern sie für eine beliebig zu gestaltende äußerliche Einrichtung der menschlichen Gesellschaft hielten, anstatt für eine Lebensäußerung des menschlichen Geistes, die allen seinen Wandlungen folgt, also denen des Schönheitsinnes, der Bequemlichkeit, des Klarheitbedürfnisses usw. In neuester Zeit sucht sich die Gottschedische und Adelungsche Auffassung von der Sprache wieder vorzudrängen und durch starre, oft sehr willkürliche Regeln den unaufhaltsamen Werdegang der Sprache zu hemmen. Der Deutsche Sprachverein, dessen Ziel keineswegs bloß die Sprachreinigung ist, bemüht sich mit Erfolg, zwischen der regellosen Willkür und der Regelwut die goldene Mitte innezuhalten. Gegen die Heckenschere der Sprachmeisterer berufe man sich nur immer auf Goethes Warnung:

Anatomieren magst Du die Sprache, doch nur ihr Kadaver;
Geist und Leben entschlüpft flüchtig dem groben Skalpell.

Erstes Buch.

Von deutscher Art und Dichtung im ersten Jahrtausend.

Erstes Kapitel.

Ursprung, Namen und Art der Germanen.

Siegreiche Schlacht der Kimbern und Teutonen gegen die Römer bei Arausio (Orange) 107 v. Chr. Ihre Niederlage bei Vercelli 101 v. Chr. Julius Cäsar von 100 v. Chr. bis 44 v. Chr.;

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seine Denkwürdigkeiten über den Gallischen Krieg um 56 v. Chr. Der ältere Plinius kam 79 n. Chr bei der Zerstörung Pompejis um. Des Livius Geschichtewerk zwischen 26 v. Chr. und 14 n. Chr. Des Tacitus Annalen um 116 n. Chr.; seine Germania um 98 n. Chr.

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feit mehr als zwei Jahrtausenden durchbraust der Ruf von den Germanen die Weltgeschichte. Seit achtzehnhundert Jahren besitzen wir ausführliche schriftstellerische Zeugnisse über sie, seit mehr als fünfzehnhundert Jahren literarische Urkunden von ihnen selbst. Ein Jahrtausend früher, als von einem französischen Volke, fast ebensoviel früher, als von einem englischen gemeldet wird. Unter dem Namen der Kimbern und Teutonen griffen sie zum ersten Mal gewaltsam handelnd in die Geschicke der Alten Welt ein; sie erschreckten die sieggewohnten Römer, wurden aber durch die überlegene Kriegskunst des Marius 101 v. Chr. auf den Raudischen Gefilden bei Vercelli in vernichtender Schlacht überwältigt. Kaum zweihundert Jahre später mußte der größte römische Geschichtschreiber, Tacitus, von den Germanen als Siegern über römische Heere berichten und sie in einer besonderen Schrift seinem eigenen Volk als ein in vielen Dingen beneidenswertes Vorbild hinstellen.

Von wannen die Germanen ihren Ursprung genommen, darüber wußten die Römer nichts Zuverlässiges. Tacitus meint, sie müßten dem Lande Germanien selbst als Erdeingeborene entstammt sein. Heute, nach Jahrtausenden, vermeint die Sprach- und Völkerwissenschaft das Rätsel der Herkunft der Germanen gelöst zu haben: durch die Vermutung einer großen „indogermanischen“ Völkerfamilie, von der ein aus Mittelasien nach Europa eingewanderter Zweig das germanische Urvolk gewesen sei. Zum Beweise mußte vornehmlich die unleugbare Verwandtschaft der germanischen Sprachen mit allen übrigen „indogermanischen“ Sprachen dienen: mit dem Altindischen (Sanskrit), dem Altpersischen, dem Griechischen, Lateinischen, Slawischen und Keltischen. Dieser Beweis hat seine Überzeugungskraft zum großen Teil eingebüßt; heute weiß man aus zahlreichen geschichtlichen Beispielen, daß Sprachverwandtschaft, ja selbst Sprachgleichheit für Stammeszusammengehörigkeit nichts beweist. Die Neger, die Deutschen und alle übrigen Einwanderer in Nordamerika sprechen Englisch, sind aber keine Engländer; die Juden fast aller Länder reden nichtsemitische Sprachen; die Franzosen, Spanier, Portugiesen, Rumänen sprechen romanische Sprachen, ohne dem Blute nach Romanen zu sein. Die Nachkommen der Ägypter sprechen längst nicht mehr Ägyptisch, auch nicht mehr Koptisch d. h. Neuägyptisch, sondern Arabisch, sind aber keine Araber. Über die wahre Stammeszugehörigkeit all dieser Völker belehren uns, den von ihnen geredeten Sprachen zum Trok, geschichtliche Urkunden; sonst würden wir dieselben Fehlschlüsse ziehen wie aus der Sprachverwandtschaft der sogenannten indogermanischen Völker auf deren Stammesverwandtschaft. Die Ursachen für sprachliche Uhnlichkeiten zwischen sehr verschiedenen Völkern sind erfahrungsgemäß ebenso oft politischer Art, also Ergebnisse von Eroberungen, Verschmelzungen, Unpassungen, wie gemeinsamer Ursprung oder Blutsverwandtschaft. Wir werden uns also, nach den forderungen streng

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