Seine Krankheit, die am vierten Tage für eine entschiedene Lungenentzündung erkannt wurde, dauerte acht Tage. Aber mit der steigenden Gefahr und zunehmenden Schwäche wurde in ihm die Hoffnung stärker, welche ihm gleich zu Anfang sinken wollte; noch am Morgen des letzten Tages äusserte er:,,Noch kann ich besser werden!" Aber zwei Tage vorher, als die theure Gattin, welche über ihre Kräfte hinaus an seinem Lager gesorgt und gepflegt hatte, der eignen Krankheit erliegend, sich hatte zurückziehen müssen, da rief er mit der schmerzlichsten Ahndung, den Blick auf die Wände des Zimmers gerichtet:,, Unglückliches Haus! Vater und Mutter verlierst du zugleich!" Und zu den Kindern sprach er:,, Betet zu Gott, Kinder! Nur Gott kann helfen!" und ihn selbst sah man im stillen Gebete Trost und Stärke suchen. Wenn er dann wieder mit grösserer Hoffnung sich dem Leben zuwandte, verlangte sein lebendiger und starker Geist gar bald nach gewohnter Beschäftigung. Die theuersten Studien seines Lebens blieben es ihm bis zum Tode; er hat seine Liebe für sie durch die treueste Ausdauer und Beharrlichkeit als eine reine und ächte bewährt. Auf seinem Krankenlager liess er sich von Classen aus Josephus' Jüdischer Geschichte den griechischen Text stundenlang vorlesen und folgte mit solcher Leichtigkeit und Spannung, dass er während des Vorlesens mehrere Fehler des Textes unmittelbar verbesserte; es ist dies, wenn man will, ein unbedeutender Umstand: uns aber erschien er immer als einer der bewundernswürdigsten Beweise seiner Geisteskraft. Das letzte wissenschaftliche Werk, für welches er Interesse beweisen konnte, war die eben eingetroffene Beschreibung von Rom von Bunsen und seinen Freunden; er hörte die Vorrede zum ersten Bande mit Freude vorlesen und sprach seinen Beifall darüber aus. Auch zur leichten Unterhaltung wünschte er Lektüre, doch die Versuche misslangen. Als ein Freund ihm die Briefe eines Verstorbenen vorschlug, die damals grosses Aufsehen machten, lehnte er sie mit der Bemerkung ab: er fürchte, dass ihn Frivoli täten darin verletzen möchten. Bei einem Roman von Cooper, den man ihm empfahl, scherzte er über die unmässige Breite, und es belustigte ihn sehr, dass das Experiment, welches er vorschlug, von jeder Seite auf's Gerathewohl nur eine Periode zu lesen, nichts sonderlich am Zusammenhang vermissen liess. Von Zeitungen liess er sich nicht allein die nahe Kölnische bis zum letzten Tage vorlesen, sondern auch aus französischen und anderen Blättern täglich Bericht erstatten. Dies verlangte er noch ausdrücklich zwölf Stunden vor seinem Tode und sprach über die Nachricht von einem Ministerwechsel in Paris noch halb scherzend sein Urtheil aus. Aber am Nachmittag des 1. Januar 1831 versank er in einen von Träumen bewegten Schlummer: er äusserte noch einmal beim Erwachen, dass ihn angenehme Bilder im Schlafe beschäftigten; er redete bisweilen im Traum französisch: vielleicht fühlte er sich seinem vorangegangenen Freunde de Serre nahe. Mit einbrechender Nacht schwand nach und nach das Bewusstsein; er erwachte noch einmal, als ihm um Mitternacht die letzte Arznei gereicht wurde: er erkannte darin ein letztes, zweifelhaftes Mittel und sprach mit matter Stimme: Was für eine essentielle Substanz ist das! Steht es so mit mir?" Es waren seine letzten Worte; er sank auf's Kissen zurück, und nach einer Stunde hatte sein edles Herz zu schlagen aufgehört. Schlussbetrachtung. Unsere Mittheilungen haben sich an Niebuhr's äussern Lebensgang angeschlossen und in den einzelnen Abschnitten desselben ihre Anordnung gefunden. Ich lasse zum Schlusse noch einige allgemeine Bemerkungen folgen, welche sich bei dem Rückblicke auf das Ganze seines Lebenslaufes, auf dasjenige, was er erstrebt und was er erreicht hat, auf die geisti gen und sittlichen Kräfte, von denen sein Wesen und Wirken durchdrungen war, dem Betrachter aufdrängen. Das Wort, das er als achtzehnjähriger Jüngling seinen Eltern zurief 1): ,,Wenn mein Name je genannt werden sollte, wird man mich als Geschichtschreiber und politischen Schriftsteller, als Alterthumsforscher und Philologen kennen", ist in vollem Umfange und aufs glänzendste in Erfüllung gegangen. Niebuhr's Name wird als der des Begründers einer wahrhaft kritischen Geschichtsforschung überhaupt und der lebendigen Erkenntniss der römischen Geschichte insbesondere auf die Nachwelt gehen und in dankbarem Andenken bleiben, so lange die deutsche Wissenschaft auf ihre Ehre hält. Es stimmen in diesem Urtheil, wie ich glaube, nicht nur die Männer überein, welche nach ihm auf dem Hauptgebiete seiner Forschungen, der römischen Geschichte, wenn auch zum Theil von ganz anderen Gesichtspunkten ausgehend, gearbeitet haben, sondern auch diejenigen, denen wir die Wiederbelebung und mit tiefem Verständniss eindringende Behandlung der mittleren und neueren Geschichte in Deutschland verdanken, Männer wie Ranke, Dahlmann, Waitz, von Sybel. In edeln Worten hat der letzte in seiner zu Rom den 3. August 1864 gehaltenen Festrede „über die Gesetze des historischen Wissens" seine Verehrung für Niebuhr ausgesprochen 2):,,König Friedrich Wilhelm III. hat den gelehrten Studien an zwei bedeutenden Punkten eine Heimath gegründet, dort in der preussischen Hauptstadt, hier in den reich gesegneten deutschen Grenzlanden. An beiden Orten ist in den Anfängen der neuen Anstalt der Gang der geschichtlichen Wissenschaft durch die Thätigkeit des Mannes geweiht worden, der wie kein Anderer dieses Jahrhunderts für die Bethätigung der kritischen Grundsätze, für die Entwicklung ächten Wissens schöpferisch gewirkt hat." Und in der am 18. October 1867 zu Bonn gehaltenen Rede:,, Drei 1) Siehe oben S. 30. 2) Vorträge und Aufsätze von H. von Sybel (Berlin 1874), S. 20. Bonner Historiker" 1), begründet er dieses Urtheil näher, indem er den Mann feiert,,, den wir als den eigentlichen Begründer der modernen deutschen Geschichtsschreibung, und zugleich als die leuchtendste Zierde der jungen rheinischen Hochschule zu betrachten haben.",, Niebuhr erwuchs", sagt er, ,, aus der Energie, womit er den vergangenen Dingen, so zu sagen, auf den Leib rückte, die kritische Methode, die seitdem die Grundlage aller unserer Arbeiten geworden ist"; und mit klarem Blicke führt er die hervorragenden Züge dieser Methode aus. Waitz aber hat das Verhältniss seiner eignen wissenschaftlichen Bestrebungen zu Niebuhr's Vorgange schon in seiner Inaugural - Dissertation so bezeichnet: His annis Niebuhrii historiam Romanam legi iterumque legi: hunc non satis admirari potui librum: ex hoc et criticam historiae investigationem et perspicuam rerum narrationem quam optime discere mihi visus sum: nulli libro tantum debeo, Niebuhrium popularem meum aemulari iuveni summum videbatur." Und zu diesem Zeugniss für den Begründer der römischen Verfassungsgeschichte bekennt sich, ich weiss es, der Begründer der deutschen Verfassungsgeschichte noch heute. 99 Unter denjenigen, welche Niebuhr's eigenstes Werk, die Römische Geschichte, in seinem Geiste fortzuführen bemüht gewesen sind, ist nach meinem Urtheil keiner mit tieferem Verständniss in denselben eingedrungen als Schwegler: durch die Gründlichkeit und den Umfang seiner Gelehrsamkeit sowohl, wie durch die Besonnenheit und Nüchternheit seiner Forschung war er besonders berufen, die schwierige Aufgabe zu erwünschtem Ziele zu führen; aber auch seinem Unternehmen hat ein jäher Tod ein frühes Ende gemacht. Das Wort, in welchem er sein Urtheil über Niebuhr zusammengefasst hat, lautet so 2):,, Was seit lange und von verschiedenen Seiten angebahnt und vorbereitet war, hat vermöge 1) A. a. O. S. 25 ff. 2) Römische Geschichte von Dr. A. Schwegler (Tübingen 1867), Bd. I, S. 144 f. 66 einer in ihrer Art seltenen Vereinigung ausgebreiteter historisch - philologischer Gelehrsamkeit mit kritischem Scharfsinn und lebendiger Intuitionsgabe - einer der grössten Alterthumsforscher aller Zeiten, Barthold Georg Niebuhr, zur Vollendung gebracht. Seine Römische Geschichte, ein grossartiges, in jeder Beziehung classisches' Werk, ist nicht nur der Brennpunkt und Abschluss der bisherigen, sondern auch der Ausgangspunkt und die Grundlage aller späteren Forschungen, zu denen es den Anstoss und die fruchtbarste Anregung gegeben hat. Aehnliche Zeugnisse der verdienstvollsten und gelehrtesten Forscher auf dem Gebiete der römischen Geschichte und Alterthümer, nicht nur in Deutschland, sondern namentlich auch in England und Frankreich, liessen sich in grosser Zahl zusammenstellen: ich erlaube mir nur noch auf die unparteiische und einsichtsvolle Würdigung hinzuweisen, welche mein Freund Dr. Isler in der Vorrede zu der,, Neuen Ausgabe der römischen Geschichte 1) von der noch lange nicht abgeschlossenen Wirkung des Niebuhr'schen Werkes uns gegeben hat. Es ist oft ausgesprochen worden und wird sich auch ferner bestätigen, dass vor den einzelnen Ergebnissen seiner Forschungen manche von den neueren Untersuchungen und auch den neueren Entdeckungen, namentlich auf dem Gebiete der Sprachforschung und römischen Topographie, nicht Stand halten können. Aber nicht minder unzweifelhaft ist. es, dass sein Werk, wie Savigny sagt, der Behandlung der Geschichte des Alterthums einen ganz neuen Charakter verliehen und, wie Schwegler hinzufügt, einen unermesslichen Umschwung in allen Forschungen über römisches Alterthum herbeigeführt hat. Wenn einmal durch die gelehrte Prüfung aller seit Niebuhr auf diesem Gebiete erschienenen Arbeiten das Feststehende der durch seinen Scharfsinn gewonnenen Resultate von dem Unhaltbaren oder Zweifelhaften geschieden sein wird, so wird, wie sich schon jetzt übersehen lässt, ein 1) Römische Geschichte von B. G. Niebuhr. Neue Ausgabe von M. Isler. (Berlin, Verlag von Calvary & Co., 1873.) |