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DIE WANDLUNGEN DER FORMGESTALTUNG

:

1. DIE KLASSISCHE ÜBERLIEFERUNG

,,Wann in dem. VI. moned der engel gabriel wart gesant von gott in die stat galilee der name waz nazareth. | zů einer meide gemechelt eim man dez name was ioseph. von dem haus dauids: vnd der nam der meide waz maria. Der engel gieng ein zů ir vnd sprach. Gegrússt seistu vol der genaden der herr ist mit dir: du bist gesegent vnter den weiben. Do sy es gehort. sy wart betrübt in seinem wort: vnd gedacht wie gethan dirr grüß wer. Vnd der engel sprach zů ir. Nichten wolst dir fürchten maria: wann du hast funden genad bey gott. Sich du enpfechst im leip vnd gebirst einen sun: vnd du rúffest seinen namen ihesus. Wann dirr wirt michel: vnd wirt gerůffen ein sun des höchsten. Vnd der herre gott der gibt im das geseß dauids seins vatters: vnd er reichsent in dem haus iacobs ewiglich : vnd seins reichs wirt nit ende."

Diese Worte aus dem Lukasevangelium liegen den mittelalterlichen Darstellungen der Verkündigung zugrunde. Doch ist der Evangelientext nicht unmittelbar Quelle des Inhaltes der mittelalterlichen christlichen Kunst, sondern nur mittelbar, soweit er in die Meßliturgie mit ihren Lesestücken, Gebeten und Hymnen verwoben oder in der Predigt oder dem aus der Liturgie hervorgewachsenen geistlichen Schauspiel verwendet oder in den Visionen der Mystiker neu gestaltet ist'.

Der Umstand, daß der mittelalterliche Künstler seinen Vorstellungsschatz nicht nur durch das Wort, sondern auch durch Vermittelung des Auges empfing, hat zahlreiche neuere Forscher, wie Weber und Mâle, zu der Folgerung veranlaßt, daß die bildende Kunst Gesehenes, etwa Szenen des

1 Vgl Sauer, Symbolik des Kirchengebäudes, 1902, S. 282 ff.

' Vgl. Weber, Geistliches Schauspiel und kirchliche Kunst, 1894.

' Vgl. Mâle, l'art religieux de la fin du moyen âge en France, 1908, S. 1 ff.

geistlichen Schauspieles, unmittelbar wiedergebe. Vereinzelte derartige Wirkungen des Dramas auf die bildende Kunst sollen nicht geleugnet werden 1; im wesentlichen sind sie inhaltlicher Art. Formale Abhängigkeiten indes kommen kaum in Betracht. Denn die gleiche innere Notwendigkeit, das gleiche Lebensgefühl gestaltet nach einer Gesetzlichkeit Szenenbild und Bildwerk; welches von beiden in Einzelfällen zuerst da war, dies festzustellen erscheint belanglos, verglichen mit der Lösung der wichtigeren Frage, wie das Grundgefühl einer Zeit sämtliche Künste veranlaßt, für einen bestimmten Inhalt einen gemeinsamen formalen Ausdruck zu finden.

Welches Grundgefühl spricht aus der Gruppe zweier lebensgroßer Steinbilder der Verkündigung (Abb. 1) im Münster zu Überlingen? Man wird das Fürchten, von dem der Evangelientext spricht, vergeblich suchen. Im 13. Jahrhundert, der späten Stauferzeit, vollendet sich, mancher irdischen Befangenheit und Not zum Trotz, eine Epoche hochgemuter, adeliger Gesinnung, weit gespannten geistigen Horizontes, starken und doch gebändigten Gefühles. Niemals war die menschliche Seele weiter geöffnet, reiner und größer. Ist die Überlinger Maria nicht ein Spiegel dieses Seelenlebens? Gibt sie nicht mit der leisen Bewegung der ausgestreckten Hand und dem strahlenden Blicke dem Betrachtenden unmittelbar ihre Zugehörigkeit zu den Himmlischen zu erkennen? Gelassen, feierlich, von einem stillen Bewußtsein ihrer Bedeutung erfüllt, und doch träumerisch, nach innen gewendet, so empfängt die Jungfrau den Engel. Je länger man in Anschauung versunken vor ihr steht, desto stärker spürt man: diese Gestalt ist nicht nur von jener Welt; eine Spur von antiker Sinnenfreudigkeit ist in ihr lebendig. Wie ist das rechte Bein als Spielbein klar und sicher zur Seite gestellt, wie der Oberkörper emporgestrafft! „Die seligen Augen blicken in stiller, ewiger Klarheit." In der Tat, der Figur dürfte eine gute Schöpfung des Altertums, etwa im Stile der Artemisia vom Mausoleion', als Vorbild gedient haben. Nicht als ob der Meister unseres Werkes eine solche antike Statue selbst gekannt haben müßte obgleich dies nicht unmöglich wäre ; aber mittelbare Vorbilder boten sich in großer Zahl. Dem Bewußtsein des 13. Jahrhunderts, so wenig es immer in der bloßen Diesseitigkeit Genüge fand, war das hohe Lied schöner Menschlichkeit, das aus der Antike herüber klang, nicht fremd. Das ganze frühe

1

1 Vgl. Pinder, Die dichterische Wurzel der Pietà, Repertorium für Kunstwissenschaft, XLII, 1920, besonders S. 147 f.

'Abbildung bei Hekler, Römische weibliche Gewandstatuen 1909, S. 235.

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