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VI.

Ministerium Sarrien.

7. März. Infolge der Abstimmung der Deputiertenkammer von diesem Tage in der obigen Frage der Kircheninventuraufnahme tritt das Ministerium Rouvier zurück, das am 24. Januar 1905 dem Ministerium Combes gefolgt war. Die Hauptaufgabe des Ministeriums Rouvier hatte in der Durchführung der Trennung von Kirche und Staat und in der Beruhigung der durch Angebereiwirtschaft erbitterten Heereskreise bestanden. Rouvier hatte deshalb seinen Stüßpunkt nicht hauptsächlich auf der linken Seite der Kammer, sondern auch Anschluß bei den gemäßigten Parteien gesucht und dem, entsprechend damals eine Art Konzentrationsministerium gebildet, in dem die radikale Färbung entschieden überwog.

12. März. Ein neues Ministerium wird also zusammengeseßt: Sarrien Präsidium und Justiz, Clémenceau Inneres, Bourgeois Aeußeres, Etienne Krieg, Thomson Marine, Briand Kultus und Unterricht, Doumergue Handel, Barthou öffentliche Arbeiten, Ruau Ackerbau, Poincaré Finanzen, Leygues Kolonien. (Sarrien, geboren 1840, war früher Advokat in Lyon, dann Bürgermeister, Abgeord= neter seit 1876, 1885 Postminister, später mehrmals Minister des Innern, dann der Justiz.)

14. März. Der Ministerpräsident Sarrien verliest in der Deputiertenkammer eine Erklärung, in der es heißt:

Das Kabinett ist sich der gegenwärtigen Schwierigkeiten und der Pflichten voll bewußt, die ihm das Vertrauen des Präsidenten der Republik und seine Verantwortlichkeit gegenüber dem Parlament und dem Lande auferlegen. Die Minister hoffen, daß die Kammer das Budget und die Bewilligung der für den Gang der öffentlichen Dienste unentbehrlichen Mittel möglichst schnell erledigen werde. Das Geseß über die Trennung von Kirche und Staat wird in demselben liberalen Geiste angewandt werden, in dem es vom Parlament beschlossen ist. Die Regierung beabsichtigt, mit aller notwendigen Umsicht, aber auch mit unbeugsamer Festigkeit die neuen gesezlichen Bestimmungen durchzuführen, deren Charakter einige Parteien der Opposition vergeblich in ihr Gegenteil zu verkehren gesucht haben. Wir werden nicht aufhören, die Stärke unsrer nationalen Verteidigung dadurch zu vermehren, daß wir die Bande gegenseitigen Vertrauens, die die Armee und die Nation eng umfaffen, noch enger gestalten. Auf finanziellem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiete wird die Regierung bestrebt sein, alle Reformen, die verwirklicht werden können, auszuführen, und besonders wird sie es sich ange= legen sein laffen, dem Senat die Frage der Arbeiterversicherung zu unterbreiten. Was die auswärtige Politik anlangt, so beabsichtigen wir besonders in den Fragen, die unsre Lage in Nordafrika berühren, die von unsern Vorgängern befolgte Politif fortzuseßen, die noch fürzlich die Zustimmung des Parlaments gefunden hat. Im vollen Bewußtsein der Rechte und der Lebensinteressen, die unsre Diplomatie zu wahren die Pflicht hat, sind wir überzeugt, daß die Ausübung dieser Rechte und die normale Entwicklung dieser Intereffen gesichert werden können, ohne die irgendeiner andern

Macht zu schädigen. Wie unsre Vorgänger, denen Gerechtigkeit widerfahren zu laffen uns am Herzen liegt, haben wir die Hoffnung, daß die Aufrichtigkeit und die Würde dieser Haltung die nahe und endgiltige Regelung der schwebenden Schwierigkeiten gestatten werden. Treu einem Bündnisse, deffen wohltätige Wirkung Frankreich und Rußland in gleicher Weise erfahren haben, und treu den Freundschaften, deren Sicherheit und Wert wir ebenfalls haben ermessen können, hat Frankreich in der Welt eine Stellung, die den Geist der Gerechtigkeit und des Friedens noch mehr festigt. Dieser Geist wird fortdauernd auch der unsrige sein, und deshalb werden wir mit Vertrauen eine Politik weiter befolgen, die in unsern Augen in gleicher Weise der Sache unsers Vaterlandes und der des Weltfriedens dient. Die öffentliche Meinung hat schon die Gesinnung gegenseitigen Vertrauens und aufrichtiger Eintracht verstanden, die die Republikaner, die hier vor Ihnen stehn, einander genähert hat.

Im Senate wird dieselbe Erklärung verlesen.

VII.

Soziale Angelegenheiten.

1. April. In Charleroi treten die Vertreter der vier Kohlenbecken des Landes zu einem Kongreß zusammen, der zunächst ein Glückwunschtelegramm an die deutschen Bergarbeiter zu Herne in Westfalen wegen ihrer Hilfeleistung bei einem großen Unglücke zu Courrières (Departement Nord) absendet und dann eine Lohnerhöhung von fünf Prozent verlangt.

2. April. Der Bergarbeiter Nemy sagt in einem Schreiben an die nach Courrières geeilte deutsche Rettungsmannschaft: „Wir sehen mit Freuden, daß jeglicher Groll verschwindet, wenn es fich darum handelt, eine opferwillige Tat zu vollbringen.“

5. April. Der „Radical“ schreibt über die vom Deutschen Kaiser in Krefeld an die westfälischen Bergleute gerichtete Ansprache (S. 160):

Am Tage nach dem Abschluß der Konferenz in Algeciras darf man diesen Worten des Kaisers ohne optimistische Uebertreibungen einen besonders herzlichen Charakter beimessen; man kann in dieser Kundgebung einen lebendigen und ergreifenden Kommentar zu dem soeben in Algeciras unterzeichneten Schriftstück erblicken. Dieser Konferenz hatte ein beredter Ton und eine beredt zu den Herzen aller sprechende Gebärde gemangelt. Nun ist dieser Ton und diese Gebärde unerwartet und höchst eindrucksvoll auf einem Umwege zu uns gelangt. Allen sichtbar schwebt an dem von Feuerschein geröteten Himmel von Courrières die Friedenstaube mit dem Delzweige.

17. April. Der Minister des Innern, Clemenceau, erklärt in einer Bergarbeiterversammlung zu Lens, einem Hauptsize des Ausstandes, daß das Recht zum Ausstande von der Regierung geachtet werden würde, ermahnt aber die Arbeiter zu ruhigem Verhalten und verspricht, daß keine Truppen in das Ausstandsgebiet

gesandt werden würden solange dort Ruhe herrsche und die Freiheit der Arbeit und das Eigentum nicht angetastet würden. Der Minister fordert die Arbeiter auf, sich der Republik würdig zu zeigen, die zum erstenmale keine Truppen schicke. Die Vertreter der Bergarbeiter einigen sich auf die Forderung eines Tagelohns von 7 Franken 18 Centimes.

18. April. Im nordfranzösischen Grubenreviere kommt es zu blutigen Zusammenstößen zwischen Militär und 80 000 ausständigen Bergarbeitern. Ausstand der Briefträger und von 3500 Maschinenarbeitern der Buchdruckereien in Paris.

20. April. Heftige Zusammenstöße zwischen ausständigen Bergar= beitern und Truppen in zwanzig Orten des Bezirks von Valenciennes.

21. April. Unruhen an verschiednen Orten der Bretagne. Neue Ausstände und Kämpfe in Lens und Lorient.

26. April. Der Ausschuß des allgemeinen Arbeiterverbandes stellt einen Gesamtausstand in Aussicht.

1. Mai. Der sozialdemokratische Maifeiertag verläuft in Paris angesichts der starken Aufbietung von Militär ohne die befürchteten Unruhen.

3. Mai. Wegen des Bergarbeiterausstands wird Militär in die Gegend von Longwy geschickt. — Der Minister Clemenceau sagt in einer Rede zu Lyon:

Man habe durch umfaffende Haussuchungen in Paris Schriststücke entdeckt, aus denen sich ergebe, daß in Uebereinstimmung mit frühern Anweisungen des Herzogs von Orleans ein Plan für das Eingreifen der antirepublikanischen Parteien in die Arbeiterbewegung bestehe. Wenn die Reaktion vorgebe, daß sie an ein Komplott nicht glaube, so geschehe dies, weil sie sehe, daß ihr die lezte Möglichkeit schwindet, die Wähler durch ihre Machenschaften zu täuschen. Der Minister beklagt sich über die Haltung der vereinigten Sozialisten, die die Radikalen bekämpften, erklärt, daß die radikalen Sozialisten die Arbeit der Reaktion besorgten, und schließt mit der Hoffnung, daß der gute Menschenverstand der Wähler die begangnen Fehler wieder gutmachen werde.

VIII.

Erneuerung der Kammern.

8. Januar. Von den 102 Wahlen zur Erneuerung eines Drittels des Senats fallen 70 auf den Block (Republikaner und Linke) und 32 auf die Opposition, die 12 gemäßigte Republikaner, 15 Monarchisten und 5 Nationalisten umfaßt. Der Block gewinnt 3 Mandate. Die sozialistische Partei, die im Senate bisher nicht vertreten war, nimmt den Radikalen zwei Mandate ab. Die Zusammenseßung des Senats ist also nicht geändert worden.

7. Mai. Von den 585 alle vier Jahre zu wählenden Mitgliedern der Deputiertenkammer werden 426 gewählt, insbesondre

28 Nationalisten, 58 Progressisten, 64 linksstehende Republikaner, 83 Radikale, 74 radikale Sozialisten, 32 vereinigte Sozialisten, 10 unabhängige Sozialisten, 77 Konservative.

21. Mai. Von den Stichwahlen fallen 140 auf den Block, 15 auf die Opposition. Die Blockparteien gewinnen also 37 Site. Nach der Zusammenstellung des Ministeriums des Innern besteht die neue Kammer, abgesehen von den Wahlen in den Kolonien, wenigstens aus 79 Reaktionären, 30 Nationalisten und 66 Progres= fisten (gemäßigten Republikanern), 118 Radikalen, 127 sozialistischen Radikalen, 56 geeinigten und unabhängigen Sozialisten.

IX.

Die Kammern zur Zeit des Ministeriums Sarrien.

1.

Aeber die allgemeine Politik.

12. April. In der Deputiertenkammer verliest der Minister Bourgeois eine Erklärung, in der er zunächst daran erinnert, daß er in Algeciras die Politik seines Vorgängers fortgeseßt und die den französischen Delegierten bereits erteilten Instruktionen in Kraft er= halten have. Er fährt dann fort: Die günstige Art und Weise, mit der die Erklärung der Regierung am 16. Dezember aufgenommen wurde, hat durch die moralische Kraft, die sie der Regierung verlieh, sehr viel zu dem günstigen Ausgange der Verhandlungen in Algeciras beigetragen. Bourgeois erinnert dann an die durch Rouvier auseinandergesezten Bedingungen, unter denen Frankreich zur Konferenz gegangen sei. Gleich bei der ersten Sizung habe der Herzog von Almodovar den Vorschlag gemacht, folgende drei Punkte von der Diskussion auszuscheiden: die Souveränität des Sultans, die Inte= grität des marokkanischen Reichs und die Handelsfreiheit (S. 8). Es waren dies dieselben Gedanken, die wir formuliert hatten, und der Delegierte Frankreichs habe sich beeilt, dieses zu erklären, und auf seinen Antrag, der übrigens durch den Delegierten Deutschlands unterstüßt worden sei, seien diese drei Grundsäße die ge= meinsame Grundlage für alle spätern Beschlüsse geworden, und alle Arbeit der Konferenz habe nur den Zweck gehabt, diese Prinzipien mit dem Rechte und den Sonderinteressen, die Frankreich in Marokko zu verteidigen und geltend zu machen habe, in Einklang zu bringen. Die Entscheidung der Konferenz zeigt, daß dieses Ergebnis dank gegenseitiger, reiflich überlegter und in loyaler Weise bewilligter Zugeständnisse unter durchaus für Alle ehrenhaften Bedingungen hat erreicht werden können, und ohne daß etwas, was Frankreich angeht, aufgegeben worden wäre von der

Frucht seiner frühern Anstrengungen, der Würde seiner gegenwärtigen Stellung und der Sicherung seiner Zukunft. - Bourgeois erinnert sodann an die Worte des Fürsten Bülow im deutschen Reichstag über die historischen Rechte Spaniens und Frankreichs in Marokko (S. 51) und ihre besondre Erfahrung hinsichtlich der Organisation der Polizei, sowie daran, daß Fürst Bülow mit den Worten geschlossen habe, das Ergebnis der Konferenz sei in gleicher Weise für Deutschland und Frankreich befriedigend und für alle zivilisierten Staaten von Nußen. Wir wollen keine bessere Definition eines Uebereinkommens suchen, von dem wir immer gesagt haben, daß wir es so wünschten, daß es gerecht und derartig sei, daß es weder einen Hintergedanken noch eine schlechte Erinnerung hinterlasse. Der Minister schließt: „Ich möchte in einigen Worten den hohen sittlichen Wert des in Algeciras vollbrachten Werkes hervorheben. Sämtliche Mächte haben, indem sie nach so langen und schwierigen Beratungen dahin gelangt sind, sich über die Bedingungen einer für alle ehrenvollen und auf Vernunft und Billigkeit gegründeten Abmachung zu einigen, den Willen kundgetan, ihre be sondern Anschauungen den Notwendigkeiten eines guten allgemeinen Einvernehmens unterzuordnen und für die Zukunft der Welt die Ruhe und das Vertrauen zu sichern, die der normale Stand der internationalen Beziehungen gewährt. In eben diesem Geiste ist die Regierung den Arbeiten der Konferenz gefolgt und wird gewiß die republikanische Demokratie deren Ergebnisse auslegen. Frankreich vermochte dort die Festigkeit seiner Bündnisse und seiner Freundschaften auf die Probe zu stellen, zu denen sich wertvolle Sympathien gesellt haben. Frankreich schöpft aus dieser Lage um so größere Kräfte, als es dieselben lediglich in den Dienst der Zivilisation, der Gerechtigkeit und des Friedens zu stellen beabsichtigt“.

Hiernach betont Delafosse die vortreffliche Haltung Rußlands, Englands und Italiens; Vaillant hebt gleichfalls die Freundschaft hervor, die Frankreich mit England und Italien verbinde. Er erhebt zugleich Widerspruch gegen ein Entgegenkommen, das Frankreich gegenüber einer russischen Anleihe zeigen würde. Cochin drückt zugleich seine Genugtuung über das Zusammengehen Frankreichs und Spaniens in Algeciras aus. Rouanet sagt, Frankreich dürfe sich nicht vor Rußland demütigen. Bourgeois sagt, Frankreich habe nie vor irgendeiner Macht eine demütigende Haltung eingenommen. Hierauf wird der geforderte Kredit für die Teilnahme an der Konferenz von Algeciras einstimmig genehmigt. Dasselbe geschieht seitens des Senats.

Deutscher Geschichtskalender 1906. I.

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