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Historische Classe.

Sitzung vom 6. Februar 1892.

Herr v. Hefner-Alteneck hielt einen Vortrag:

Ueber die Art der Grabdenkmäler im Mittelalter."

Derselbe ist nicht zur Veröffentlichung bestimmt.

Philosophisch-philologische Classe.

Sitzung vom 5. März 1892.

Herr Stumpf hielt einen Vortrag:

Ueber den Begriff der mathematischen
Wahrscheinlichkeit."

Das Anwendungsgebiet der Wahrscheinlichkeitsrechnung ist in beständiger Ausdehnung begriffen. Wenn wir auch nicht mehr mit Pascal durch die an Glücksspielen entwickelten Begriffe den religiösen Glauben stützen oder gar mit Craig das Jahr ausrechnen wollen, in welchem die abnehmende Wahrscheinlichkeit der evangelischen Berichte so klein geworden sein wird, dass Christus wiederkommen muss; wenn wir auch den ausführlichen Theorien geschichtlicher und gerichtlicher Zeugnisse, wie sie Condorcet und Poisson entwickelten, schon wegen ihrer Unanwendbarkeit wenig Interesse mehr entgegenbringen: so überraschen uns doch die Naturwissenschaften von den Tagen des Laplace und Gauss bis zu denen Maxwells und Boltzmanns mit immer neuen weittragenden Verwertungen. Aber auch in die Moral- und Geisteswissenschaften ist die Wahrscheinlichkeitsrechnung wiedereingedrungen, sowol durch ihre Beziehungen zur Statistik, der ja alle Thatsachen wissenschaften ohne Ausnahme unterworfen sind, als durch die exacteren Principien der Hypothesenschätzung, die sie an die Hand gibt. Wenn der

Philosoph des Unbewussten mit der Wahrscheinlichkeit 0,999 999 9996 auf das Mitwirken geistiger Ursachen bei der Embryo-Entwickelung schloss, so war dies freilich ein Fehlschluss, aber die Form des Schlusses war correct. Auch die Geisteswissenschaft im engeren Sinn, die Psychologie, und selbst die Wissenschaft vom Schönen öffneten ihre Pforten; gerade von hier aus wurde Fechner wieder zu Bereicherungen der mathematischen Theorie geführt. Die modernen Verfechter der Telepathie stützen sich auf mathematische Wahrscheinlichkeit. Endlich sind auch die Grundprobleme der Erkenntnistheorie, das der Induction, des Causalgesetzes, der Aussenwelt, sogar die Frage nach einem letzten gemeinsamen Princip aller Dinge in älterer und neuerer Zeit von verschiedenen Seiten unter den Gesichtspunct der Wahrscheinlichkeitsrechnung gestellt. Grund genug für den Philosophen, dem Werkzeug, mit welchem hier operirt wird, besondere Aufmerksamkeit zu widmen.

Das Interesse der Mathematiker selbst, denen wir die Ausbildung der Lehre verdanken, galt allezeit vorwiegend der Lösung von Aufgaben, die aus triftigen methodischen Gründen hauptsächlich den Glücksspielen entnommen waren, sowie der Entwickelung bestimmter Rechnungsmethoden, die zur Lösung analoger Aufgaben führen konnten. Erst die immer manichfacheren und kühneren Anwendungen der aufgefundenen Principien wurden hie und da, und wiederum weniger für die Fachmänner als für Naturforscher und Philosophen, Veranlassung, den Begriff der mathematischen Wahrscheinlichkeit selbst und die darin etwa in Hinsicht seiner Anwendung enthaltenen Voraussetzungen genauer zu prüfen.

Gegenüber neueren Untersuchungen, welche einer wesentlichen Einschränkung oder Umformung des älteren Wahrscheinlichkeitsbegriffes das Wort reden, möchte ich im Folgenden zeigen, dass er nur etwa einer genaueren Formulirung bedarf, während die Grenzen seiner Anwendung eher weiter

als enger gezogen werden müssen. In der Weise der Anwendung allerdings müssen wir um so vorsichtiger sein.

Definitionen sind insofern und insoweit willkürlich, als damit nur gesagt sein soll: „Ich für meine Person verstehe im Folgenden unter diesem Wort diesen Begriff." Hierüber wäre denn nicht zu streiten. Aber in der Regel beansprucht man damit zugleich den Sinn eines in der Wissenschaft bereits eingebürgerten und in wichtigen Sätzen angewandten Ausdrucks so wiederzugeben, dass er genau die Merkmale bezeichnet, aus denen die Consequenzen in Wirklichkeit gezogen wurden, während zugleich alle etwaigen Unbestimmtheiten, Unklarheiten und Widersprüche getilgt sind. In Fällen wie dem unsrigen handelt es sich aber ausserdem um einen Ausdruck und Begriff, den die Wissenschaft dem gewöhnlichen Denken entnommen hat und der auch in seinen Consequenzen ausgesprochenermassen nicht zu unerträglichen Abweichungen vom gemeinen Menschenverstand führen darf. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung, sagt Laplace, ist nichts anderes als die mathematische Rechtfertigung der gesunden Vernunft (le bon sens réduit en calcul). Feineren Bestimmungen ist die blosse Schätzung auf Grund dieser gesunden Vernunft allerdings nicht gewachsen und eben darum bedürfen wir der Rechnung. Auch wird gerade das Wahrscheinlichkeitsurteil am leichtesten durch Affecte u. dergl. mitbestimmt. Aber wo die Rechnungsergebnisse der natürlichen Schätzung allzusehr widerstreiten, da werden wir immer nachzusehen haben, ob in der Aufstellung der Grundformeln oder der Bedingungen ihrer Anwendung nicht ein Versehen platzgegriffen hat, ein Verstoss gegen die gemeinsamen Kriterien des wissenschaftlichen und des gewöhnlichen Denkens, die logischen Principien der Evidenz.

Aus diesen Gesichtspuncten also ist auch eine Kritik von Definitionen in unserem Fall erlaubt und erforderlich.

I. Allgemeine Fassung des Laplace'schen Wahr

scheinlichkeitsbegriffes.

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1. In dem berühmten Philosophischen Versuch über die Wahrscheinlichkeiten" 1) führt Laplace den Begriff mit folgenden Worten ein: Die von einem Luft- oder Dampfteilchen beschriebene krumme Linie ist ebenso gesetzlich bestimmt wie die Planetenbahnen, mit dem einzigen Unterschied, dass wir ihr Gesetz nicht kennen. - Die Wahrscheinlichkeit hängt teils von dieser Unwissenheit, teils von unseren Kenntnissen ab. Zuweilen wissen wir, dass sich von drei oder mehr Begebenheiten Eine ereignen wird, und doch ist kein Grund vorhanden, dass wir glauben sollten, die eine werde sich wahrscheinlicher zutragen als die andere.... Die Theorie des Zufalls besteht darin, alle gleichartigen Begebenheiten auf eine gewisse Anzahl möglicher Fälle zurückzuführen, d. h. solcher Fälle, über deren Dasein (existence) wir in gleicher Unwissenheit sind, und dann die Anzahl der Fälle zu bestimmen, welche für die Begebenheit, deren Wahrscheinlichkeit man sucht, günstig sind. Das Verhältnis dieser Zahl zur Anzahl aller möglichen Fälle bildet das Mass dieser Wahrscheinlichkeit, die (das?) nichts anderes ist als ein. Bruch, dessen Zähler die Zahl der günstigen und dessen Nenner die Zahl aller möglichen Fälle angibt."

Wir werden zunächst den Begriff der mathematischen Wahrscheinlichkeit, wie er Laplace vorschwebte, mit Beseitigung gewisser Ungenauigkeiten und unnötiger Beschränkungen formuliren, die darin liegenden erkenntnistheoretischen Consequenzen hervorziehen und sie gegen einige weitverbreitete Misverständnisse und Einwendungen verteidigen. Im nächsten Abschnitt besprechen wir Angriffe und Umformungen, welche die Grundlagen selbst betreffen.

1) Zuerst erschienen 1814 als Einleitung zur zweiten Auflage der Théorie analytique des Probabilités“.

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