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zusammengeordnet worden sind, und bei der Aufstellung von Bischofslisten, deren Anfänge in unsere Periode fallen. Wie weit diese Trübungen und Eingriffe tendenziös gewesen sind, wie weit harmlos (weil auf vermeintlichem Wissen beruhend), muss für jeden einzelnen Fall besonders untersucht werden und entzieht sich in den meisten Fällen unserer Kenntniss. Aber man braucht nur folgende Thatsachen zu überschauen: Die Correctur der Adresse des sog. Epheserbriefes, die Prädicirung eines Briefes als petrinisch (I. Petrusbrief), eines anderen als Jakobus-, eines dritten als Judas-, eines vierten als Barnabas-, eines fünften als Paulusbrief an die Hebräer, ferner die Bezeichnung der johanneischen Schriften als Schriften des Zebedäiden Johannes, endlich die Correcturen an Evangelien (hauptsächlich an den Schlüssen) um zu erkennen, dass es eine trübende, z. Th. in die Texte eingreifende Arbeit der Tradition im 2. Jahrh. wirklich gegeben hat.

Baur und seine Schule glaubten einst, ein verständliches und zuverlässiges Bild der Entwicklung des ältesten Christenthums nur zeichnen zu können, indem sie für den grösseren Theil der altchristlichen Litteratur das Selbstzeugniss der Schriften oder die Angaben der Tradition preisgaben und die Abfassungszeit um mehrere Jahrzehnte heruntersetzten. Bei der Voraussetzung, von der sie ausgingen, dass das Judenchristenthum und das Heidenchristenthum (welches sie mit dem Paulinismus identificirten) die treibenden Factoren der Entwicklung bis über die Mitte des 2. Jahrhunderts hinaus gewesen seien, blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als die meisten Schriften spät anzusetzen und in ihnen nach Spuren mehr war nicht zu finden des immer matter werdenden Kampfes zu suchen. Von ihrem Standpunkt aus waren sie vollkommen befugt, die Urkunden einem hochnothpeinlichen Verfahren zu unterziehen; denn sie hatten die Überzeugung gewonnen, dass die eigentlichen Tendenzen in den je späteren Schriften absichtlich und in immer steigendem Masse versteckt und verborgen seien. Die Voraussetzungen der Baur'schen Schule nun sind, man kann fast sagen, allgemein aufgegeben; allein nachgeblieben ist in der Kritik der altchristlichen Schriften ein unbestimmtes Misstrauen, ein Verfahren, wie es ein böswilliger Staatsanwalt übt, oder wenigstens eine kleinmeisterliche Methode, die sich noch immer an allerlei Einzelheiten heftet und von ihnen aus wider die deutlichen und entscheidenden Beobachtungen zu argumentiren sucht. An die Stelle einer principiellen Tendenzkritik sind die Versuche getreten, allerlei Tendenzen aufzuspüren und Interpolationen in grossem Umfange nachzuweisen, oder ein Skepticismus, der Wahrscheinliches und Unwahrscheinliches auf eine Fläche stellt. Von der letzteren Eigen

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thümlichkeit kann man selbst die ausgezeichnete Arbeit, die wir auf dem Gebiete der NTlichen Kritik besitzen, die Einleitung in das N. T. von Holtzmann, nicht ganz freisprechen, obgleich gerade dieses Werk den Fortschritt einer unbefangenen Erkenntniss besonders befördert hat. Aber wie zu seiner Ergänzung haben wir in Jülicher's Einleitung eine Arbeit erhalten, die bereits die Summe der rückläufigen Einsicht der letzten zwei Decennien zu ziehen begonnen hat. Ich scheue mich nicht, das Wort „rückläufig“ zu gebrauchen; denn man soll die Dinge beim rechten Namen nennen, und wir sind in der Kritik der Quellen des ältesten Christenthums ohne Frage in einer rückläufigen Bewegung zur Tradition. Die Aufgaben der inneren Kritik der Quellen und in noch weit höherem Grade die der Entzifferung der Entstehung der Lehrund Geschichtstradition, sowie der Construction der wirklichen Geschichte werden voraussichtlich bereits nach wenigen Jahren der Mehrzahl der Fachgenossen wesentlich anders erscheinen als heute; denn der chronologische Rahmen, in welchem die Tradition die Urkunden angeordnet hat, ist in allen Hauptpunkten, von den Paulusbriefen bis zu Irenäus, richtig und zwingt den Historiker, von allen Hypothesen in Bezug auf den geschichtlichen Verlauf der Dinge abzusehen, die diesen Rahmen negiren. Vor einigen Wochen bemerkte mir ein holländischer Theologe: wer den Rahmen, in welchem die Tradition die altchristlichen Urkunden angesetzt hat, anerkennt, verzichtet darauf, eine natürliche Geschichte des Urchristenthums zu zeichnen, und ist gezwungen, an eine supranaturale zu glauben. Das wäre freilich, wenn unter „supranatural" eine Geschichte verstanden werden soll, die wie eine Heiligenlegende oder wie eine Fabel verläuft, ein tödtliches Argument; allein die Behauptung entbehrt jeder Begründung. Warum sollen 30-40 Jahre nicht ausgereicht haben, um den geschichtlichen Niederschlag in Bezug auf die Worte und Thaten Jesu zu erzeugen, den wir in den synoptischen Evangelien finden? warum bedurfte es hierzu 60 bis 70 Jahre? warum soll die Höhe, auf welcher der vierte Evangelist steht, erst 70-80 Jahre nach Paulus erklommen worden sein? warum genügen nicht 30-40 Jahre? warum sollen Erscheinungen, die wir leicht als Stufen zu ordnen vermögen, wirklich Stufen gewesen sein und nicht neben einander gestanden haben? warum kann derselbe Verfasser nicht den Römer- und Kolosserbrief geschrieben haben, der doch die Thessalonicherbriefe und den Römerbrief geschrieben hat? Es wird eine Zeit kommen, und sie ist schon im Anzug, in der man sich um die Entzifferung litterarhistorischer Probleme auf dem Gebiet des Urchristenthums wenig mehr kümmern wird, weil das, was überhaupt hier auszumachen ist, zu allgemeiner

Anerkennung gelangt sein wird - nämlich das wesentliche Recht der Tradition, wenige bedeutende Ausnahmen abgerechnet. Man wird erkennen, dass theilweise bereits schon vor der Zerstörung Jerusalems, theilweise bis zur Zeit Trajan's alle grundlegenden Ausprägungen der christlichen Traditionen, Lehren, Verkündigungen, ja selbst Ordnungen mit Ausnahme des Neuen Testaments als Sammlung - wesentlich perfect geworden sind, und dass es gilt, ihre Entstehung in diesem Rahmen zu begreifen ebenso zu begreifen, wie die gesammte Grundlegung des Katholicismus in der Zeit von Trajan bis Commodus begriffen werden muss.

das grosse Werk des Irenäus rückwärts und vorwärts leistet als relativer Abschluss der Entwicklungen von 110-180 und als Schlüssel zum Verständniss der inneren Geschichte der Kirche von 180-451, das leisten uns der I. Clemensbrief und die Ignatiusbriefe in derselben Weise rückwärts und vorwärts für die Zeit von 30 bis 110 und von 110-180. Wer diese Briefe aufmerksam studirt, dem kann es nicht entgehen, welch eine Fülle von Traditionen, Verkündigungen, Lehren und Organisationen z. Z. Trajan's bereits existirte und in einzelnen Gemeinden feststand. Wendet man aber ein, dass eine so rapide Entwicklung der Dinge vom Apostelconcil bis zum Jahr c. 100 etwas Unglaubliches hat, so möchte ich, Grosses mit sehr viel Kleinerem vergleichend, darauf hinweisen, welche Entwicklungen sich in den 50 Jahren zwischen 1517 und 1567 abgespielt haben, um nicht zu sagen zwischen 1517-1530. Man übersieht zudem in Bezug auf die Entwicklung des Urchristenthums die universale Kraft zweier Factoren, die neben der eingeborenen Triebkraft des Evangeliums wirksam gewesen sind - den Enthusiasmus und den ungeheuren geistigen Reichthum des Zeitalters, in dem das jugendliche Christenthum sich entwickelt hat. Wer alle Gedanken, die das Neue Testament und die älteste christliche Litteratur enthalten, einseitig als die spontane Hervorbringung des isolirt gedachten Christenthums auffasst und dazu - nach der herrschenden Methode der Biblischen Theologie" - jede Nuance der religiösen Empfindung, jede Allegorie, jede Schablone, in die ein neuer Inhalt gegossen wird, und jedes erbauliche Wort lehrhaft verdichtet, der reicht freilich mit zwei Menschenaltern nicht aus und muss entweder eine ganz unglaubwürdige theologische Betriebsamkeit annehmen oder muss wie Baur es gethan hat und die Holländer es wieder thun den Rahmen des Geschehens willkürlich erweitern. Sobald man sich aber klar macht, dass von Anfang an in der Jüngerschaar Christi die Kräfte eines pneumatischen Enthusiasmus ebenso entfesselt gewesen sind, wie der Trieb, die Schätze der tiefsten Erkenntnisse zu heben, und dass diese Kräfte und Triebe in einem

Zeitalter wirksam wurden, zu dessen in der Geschichte beispiellosem Reichthum an religiösen und sittlichen Erkenntnissen, Geschichtsbetrachtungen und Mysterien nichts mehr fehlte als das Evangelium und die Befreiung des Willens, damit er wolle, so wird man sich über die Fülle gleichzeitiger religiöser Gedanken und Formbildungen und wiederum über die Schnelligkeit ihrer Entwicklung nicht mehr wundern. Wie will man aber auch sonst die relative Einheitlichkeit dieser Entwicklung erklären, wenn sie sich nicht in sehr kurzer Zeit abgespielt hat? Das war die eigentliche Achillesferse der Baur'schen Construction (und jeder Construction, die die Erweiterung des Rahmens, wie er sie vorgeschlagen, anerkennt), dass sie gar nicht im Stande war, die, sei es auch nur relative Einheitlichkeit der Entwicklung verständlich zu machen, und es in Wahrheit auch nie versucht hat.

Wenn die folgenden Blätter an ihrem Theile dazu beitragen sollten, das Zutrauen zu dem chronologischen Rahmen, in dem uns die altchristliche Litteratur überliefert ist, zurückzurufen, resp. zu erhöhen, und damit sofort das Interesse von den litterarhistorischen Problemen zu den eigentlich bedeutenden, den geschichtlichen, überzuleiten, so wäre ihr höchster Zweck erfüllt. In der Geschichte, nicht in der Litteraturkritik, liegen die Probleme der Zukunft, und hier gilt es, das von einer unbefangenen Wissenschaft Erarbeitete zu sichern und eine immer breitere Grundlage für das Verständnis des Einzelnen zu gewinnen.

Berlin, den 31. Mai 1896.

Adolf Harnack.

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