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VI.

Anträge auf Veränderung der Reichsverfassung.

Am 1. April hatte der Abgeordnete Lasker unter ausdrücklicher Zustimmung des Reichskanzlers und unter allge= meinem Beifalle der Majorität des Hauses, wie wir bereits gehört, die Erklärung abgegeben, daß er von jeder materiellen Behandlung der Reichsverfassung absehe, weil jede Nation einmal eines Ruhepunktes bedürfe, indem sie sich freut der Dinge, die sie vollendet hat." Dieser Grund wurde denn auch geltend gemacht, um den Grundrechtsantrag abzu= lehnen. Man hätte hiernach glauben sollen, daß jede Ver= fassungsveränderung für längere Zeit aufgegeben sei, da man doch nicht annehmen durfte, jener Grund sei nur als Vorwand gegen die Centrumsfraction benugt worden. Dennoch scheint es fast so; schon am 19. April kam ein Antrag auf eine wesentliche Abänderung der Verfassung zur Berathung und fast von keiner Seite wurde mehr des „Ruhepunktes" gedacht, dessen die Nation angeblich bedurfte.

Zu den Anträgen auf Veränderung der Reichsverfassung, welche im Lauf der beiden ersten Seffionen des Reichstages eingebracht worden sind, gehört insbesondere der Antrag auf Bewilligung von Diäten für die Abgeordneten im Reichstage,

der Antrag, betreffend die Volksvertretung in den Bundesstaaten, endlich der Antrag auf Ausdehnung der Reichsge= sezgebung auf das gesammte bürgerliche Recht. Diese An= träge sind von sehr großer Bedeutung, nicht nur ihrer selbst und der Unterstügung wegen, welche sie im Reichstage ge= funden haben, sondern, namentlich die beiden lezteren, auch als Kundgebungen der mächtigen Strömung des Reichstages nach dem Einheitsstaate. Sie zeigen uns, was uns die Zukunft bringen wird, und verdienen deßhalb unsere volle Aufmerksamkeit.

Der Antrag auf Bewilligung von Diäten für die Mitglieder des Reichstages.

Art. 32 der Verfassung des deutschen Reiches bestimmt : „Die Mitglieder des Reichstages dürfen als solche keine Besoldung oder Entschädigung beziehen.“ Dem gegenüber be= antragte der Abgeordnete Schulze und Genossen folgenden Gesezentwurf:

„§. 1. Der Art. 32 der Verfassung des deutschen Reiches wird aufgehoben. An dessen Stelle tritt der §. 2 des gegenwärtigen Gesezes.

§. 2. Die Mitglieder des Reichstages erhalten aus der Bundeskasse Reisekosten und Diäten nach Maßgabe des Gesezes. Bis zum Erlasse dieses Gesezes stellt das Bundespräsidium die Höhe derselben fest. Ein Verzicht auf die Reisekosten und Diäten ist unstatthaft.”

Die erste und zweite Berathung dieses Gesezentwurfes fand in der XVIII. und XIX. Sigung der ersten Session (19. und 20. April), die legte in der XXII. (25. April) statt. Welche Bedeutung dieser Verfassungsveränderung im

Reichstage beigelegt wurde, erhellt aus der wiederholten namentlichen Abstimmung und dem Resultate derselben. Nach der zweiten Berathung fand eine dreimalige namentliche Abstimmung statt; zuerst über den Antrag des Grafen Bethush auf einfache Tagesordnung, welcher mit 208 Stimmen gegen 117 abgelehnt wurde; dann über den Antrag des Abgeordneten Günther auf motivirte Tagesordnung dahin lautend: „In Erwägung, daß es sich nicht empfiehlt, zur Zeit über eine Abänderung der Verfassung des Deutschen Reichs Beschluß zu fassen, geht der Reichstag 2c.," welcher gleichfalls mit 175 Stimmen gegen 152 verworfen wurde. Endlich kam der Hauptantrag selbst zur namentlichen Abstimmung und wurde mit 185 gegen 138 Stimmen angenommen. Auch bei der dritten Lesung fand wieder namentliche Abstimmung statt und in derselben wurde das Gesez mit einer kleinen Modification mit einer noch größeren Majorität, nämlich mit 186 gegen 128 Stimmen definitiv angenommen. Es kam nun darauf an, welche Stellung der Bundesrath diesem Beschlusse des Reichstages gegenüber einnehmen werde. Da bis zur zweiten Session des Reichstages im vorigen Herbste hierüber noch nichts verlautete, so interpellirte dieserhalb der Antragsteller den Bundesrath, worauf in der Sizung vom 20. October der Präsident des Reichskanzleramtes diese Interpellation_dahin beantwortete, „daß der Bundesrath die Mittheilung Ihres Herrn Präsidenten über den von dem Hause gefaßten Beschluß seinem Ausschusse für Verfassung überwiesen hat, daß dieser Ausschuß dem Bundesrath Bericht erstattet hat, und daß auf diesen Bericht der Bundesrath einstimmig beschlossen hat, dem Gesezentwurfe die Zustimmung nicht zu ertheilen.“

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Damit ist das Schicksal dieses Antrages für den Augenblick entschieden. Ich glaube aber, daß die Bemerkung des Anuragstellers bei der Begründung der erwähnten Interpellation, daß die Diätenfrage von der Tagesordnung des deutschen Parlamentes nicht verschwinden werde, bis man ihr genügt habe, in Erfüllung gehen wird. Ich glaube dieß um so mehr, weil die Sache selbst von eminenter Bedeutung ist, die Gründe aber, welche man gegen die Diäten geltend macht, nicht stichhaltig sind. Der Abgeordnete Schulze erinnerte deßhalb auch da= an, daß zu dem Diätenantrag bei Berathung des Wahlgesetzes zum constituirenden Reichstage im preußischen Abgeordnetenhause im Jahre 1866 der Bundeskanzler selbst erklärt habe, die Entscheidung dieser Frage gehöre seines Erachtens in das deutsche Parlament ; werde sie da bejaht, so glaube er, daß der Widerstand schwierig sein werde;" worauf der Bundeskanzler erwiederte : Ich weiß nicht, ob ich das gesagt habe; da es der Herr Antragsteller so angibt, so wird es wohl richtig sein, und ich kann dann nur sagen, daß ich damals eine ganz richtige Voraussicht bekundet hatte: Es wird schwierig sein; aber wir sind nicht in der Lage, daß wir vor der Schwierigkeit unserer Aufgaben zurückschrecken dürften.“ Diese Bemerkung, welche den Liberalismus zu anderen Zeiten zu Wuthausbrüchen getrieben hätte, veranlaßte jezt die obligateste „Heiterkeit.“ Vielleicht rührte diese Heiter= keit aber auch von der Ueberzeugung her, daß ja, wie der Bundeskanzler selbst sagt, er fortschreitend constitutioneller wird, und daß deßhalb der Moment nicht ausbleiben kann, wo er auch diesen Widerstand gegen die Majorität aufgeben wird. Es erübrigt uns nun noch die Bedeutung dieses Diäten

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antrages und die Gründe für und wider in's Auge zu faffent.

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Zur vollen Wahlfreiheit gehört selbstverständlich nicht nur das Recht, einen Abgeordneten nach eigener freier Bestimmung zu wählen, sondern auch das Recht, den wählen zu können, welchem man sein Vertrauen schenkt. Beides hängt wesentlich zusammen. Ein Recht ohne Rechtsobject ist nichts. Wenn ich daher zwar das Recht und die Freiheit der Wahl habe, wenn ich aber wesentlich behindert werde in der Auswahl des Candidaten, so ist die Freiheit meiner Wahl fast illusorisch.

Das geschieht nun durch die Verweigerung der Diäten in dem weitesten Umfange. Die Diäten haben selbst= verständlich nicht die Bedeutung einer Belohnung, einer das wäre für die Abgeordneten des Vol

Besoldung tes nicht würdig fie haben vielmehr lediglich die Bedeutung der Wiedererstattung der aus der Uebung des Mandates erwachsenden Unkosten. Diese sind aber sehr bedeutend. Die erste Seffion des Reichstages hat vom 21. März bis 15. Juni, die zweite vom 16. October bis 1. Dezember gewährt. Die Dauer betrug also im Ganzen 41/2 Monat. Eine so lange Dauer des Reichstages verursacht aber be= deutende Auslagen, um so mehr, da der Abgeordnete auch eine entsprechende gesellschaftliche Stellung einnehmen muß und der Aufenthalt in Berlin schon an sich ein sehr theuerer ist. Dazu kommen dann für die Abgeordneten aus Mittelund Süddeutschland die großen Unkosten der weiten Reise. Alle jene Männer, welche nicht in der Lage sind, aus eigenen Mitteln jahrelang so bedeutende Opfer zu bringen, find also von dem Reichstage ausgeschlossen. Dadurch wird aber der Reichs

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