Handlung der „Judith" ist ungleich reicher und dramatischer als die der „Daphne". Hier wie dort findet sich aber der Wechsel zwischen 'jambischen und trochäischen Versen. In beiden Dramen zeigt sich die Verwendung der trochäischen Verse an den Höhepunkten. Aus der größeren dramatischen Lebendigkeit der „Judith" ergibt sich mit Notwendigkeit, daß dieselben darin häufiger verwendet werden. Lyrische Stellen, die dem Komponisten die günstige Gelegenheit zur Arienkomposition geben mußten, finden sich in der „Judith" viel häufiger als in der „Daphne". Während wir aber in der „Daphne" nur den Chor der Hirten haben, zu dem sich nur im Schlußliede ein Chor der Nymphen hinzugesellt, haben wir in der Judith sogar fünf Chöre. Alle diese Umstände zeigen einen Fortschritt der musikalischen Form in der „Judith" an. Mithin muß auch diese in erster Linie als Operntext betrachtet werden3). Wenn nun Tscherning zu dem Opitzischen Werke zwei Akte hinzufügte, so mußte er, wenn ein einheitliches Ganzes entstehen sollte, diese Grundlinien des Opitzischen Werkes fortführen. Bevor aber diese Frage erörtert werden kann, muß der Inhalt der Tscherningischen Dichtung einer Prüfung unterzogen werden. Daher sei eine Inhaltsangabe vorausgesandt. 1. Akt. 1. Szene. Sie spielt am Hofe Nebukadnezars. Nach Unterwerfung der Meder fühlt sich der König als Herr über alle Reiche. Darum kränkt es ihn, daß ein Volck „so gegen Abend liegt", seine Herrschaft nicht anerkennen will. Voll Zorn beschließt er, dieses Volk ganz auszurotten. Pagoa, der Kriegsrat, rät zum Frieden, da dieser besser sei als Krieg, Holofern dagegen zum Kriege mit dem Hinweis: „Ist ein Feind schon so erkühnt / wird er wohl was anders wagen." Nebukadnezar lobt seinen Mut und gibt ihm den Befehl, das aufrührerische Volk furchtbar zu strafen. 2. Szene. Nathan ein Mesopotamier, Agenor, ein Cilizier, Ponto, ein Lybier, erzählen sich von den Greueltaten des Holofernes, die er auf dem Wege verübt habe. Carmi, ein Ratsherr aus Bethulien, betet zu Gott um Hilfe. König Osias fordert auf, die Mauern der Städte wieder herzustellen, neue Gräben zu verfertigen, Vorräte aufzunehmen, Besatzung einzulegen, das Gebirge zu verwahren, damit der Feind nicht einfallen könne. „Mit kläglich thun / mit Zehren Ist dem nicht abzuwehren / Der mit dem Schwerdte kommt. Wann Wind vnd Wellen gehn Der Hohepriester Jojakim fordert auf zum Gebet und zur Buße. Alle fallen auf die Knie und singen. Jojakim ermahnt sie zu weiterem Beten und tröstet sie: „Ist Gott versöhnt/ so liegt der Feinde Schaar." 3. Szene. (Heerlager des Holofernes.) Holofernes stolz auf seine Siege, kränkt sich, daß das Volk Israel sich noch nicht unterwerfen will. Pagoa rät ihm zur Strenge. Achior, der Ammoniterfürst, erzählt die Geschichte Israels, daß Gott diesem Volke stets geholfen habe und daß Holofernes sich erst erkundigen solle, ob sich das Volk gegen Gott versündigt habe, denn nur in diesem Falle könne Holofernes den Sieg gewinnen. Der Feldherr ist über diese Behauptung erzürnt, befiehlt den Achior festzunehmen, damit er das gleiche Los wie die Hebräer erdulde. 4. Szene. Achior wird von zwei Soldaten Labrax und Thraso abgeführt. Unterwegs begegnet man zweien, die aus der Stadt kommen. Die beiden Soldaten nehmen daher Reißaus, nachdem sie den Achior am nächsten Baume aufgehängt haben. 5. Szene. Der Gehenkte hat die Kraft, ein Selbstgespräch zu halten und die beiden Hebräer um Hilfe anzurufen, die, trotzdem der Feind vor den Toren ist, außerhalb der Stadt lustwandeln (!!). Die Hebräer, Sadok und Melchias, befreien ihn nach einigem Zögern und führen ihn in die Stadt, wo er Bericht erstatten will. 2. Akt. 1. Szene. Achior wird vor König Osias geführt. Er berichtet über den Wortwechsel mit Holofernes und kündigt an, daß man keine Hoffnung auf Frieden haben dürfte. Osias ist ganz bestürzt darüber. Er setzt seine Hoffnung auf Gott. Jojakim will das Volk warnen und zur wahren Reu und Buße auffordern. 2. Szene. Holofern fragt den Hauptmann Arsace und den Wachtmeister Hircan, ob die Hebräer noch keinen Herold gesandt haben, um ihre Unterwerfung mitzuteilen. Da dies noch nicht geschehen, ermahnen sie sich gegenseitig zur größten Strenge. : 3. Szene. In der Stadt ist große Mutlosigkeit entstanden. Osias sieht ein, daß er wider die Gewalt des Feindes nichts vermag. Jojakim rät. das Vertrauen auf Gott zu setzen. 4. Szene. Kriegsrat des Holofernes. Er hat erkannt, daß man die Stadt erobern könne, wenn man sie vom Wasser abschneide. So befiehlt er, daß alle Ausfallenden getötet werden sollen. 5. Szene. Infolge der Maßregeln des Holofernes ist furchtbare Not eingetreten. Die Bürger bitten, die Stadt zu übergeben. Jojakim rät zur Geduld. Auf sein Betreiben will Osias noch fünf Tage warten. Vielleicht daß bis dahin Gott Erbarmen hat. 6. Szene. Judith tritt hinzu. Sie hat von Osias' Entschluß gehört und erklärt, daß er verfehlt sei. Gott lasse sich nicht auf eine bestimmte Zeit festlegen. Sie sollten bedenken, was Abraham, Isaak und Jakob gelitten. Alle stehen beschämt da und geben ihr recht. Sie will ins Lager des Feindes ziehn, will aber ihre Pläne nicht mitteilen. Alle wollen sie ziehn lassen, da sie glauben, daß sie bei ihrer Frömmigkeit und Tugend den richtigen Ausweg finden werde. 7. Szene. Gebet der Judith um Beistand und Hilfe. 8. Szene. (Am Tore.) Carmi zweifelt, daß Judith ihren Entschluß ausführen wird. Osias aber vertraut auf sie. In der Tat erscheint sie, gefolgt von Abra, ihrer Magd. Osias rühmt ihre Schönheit und Tugend. Sie verabschiedet sich voll freudiger Zuversicht. III. A kt. 1. Szene. Am folgenden Morgen fällt Judith den Leuten des Holofernes in die Hände. Sie gibt an, Holofernes Nachricht von den Zuständen in der Stadt geben zu wollen. So wird sie zu Holofernes geführt. In der Mitte dieser Szene beginnt dann „Herrn Opitzen Arbeit", auf die hier einzugehen keine Veranlassung vorliegt. Schon die Inhaltsangabe zeigt eine Anzahl undramatischer Stellen, daneben auch ermüdende Wiederholungen. So bieten die Szenen I. 1., I. 3., (Anfang) II. 2. lediglich Variationen ohne jede Steigerung. Ungeschickt ist es auch, wenn Achior in II. 1. den Verlauf der Szene 1. 3. wiederholt. Aber auch in der Charakterisierung der einzelnen Personen zeigen sich Widersprüche und Wiederholungen. Nebukadnezar ist der übliche Tyrann und in nichts von seinem Feldherrn unterschieden, der in I. 3. die Gedanken seines Königs nur rekapituliert. Pagoa rät in I. 1. zum Frieden, in I. 3. aber zum Kriege. König Osias, der in I. 2. so besonnene Anweisungen gibt, steht später hilflos da. Dem Dichter war es darum zu tun, das Gottvertrauen der Belagerten ins rechte Licht zu setzen, aber da sie klagend die Hände in den Schoß legen und sich nicht zu helfen wissen, fehlt ihnen jede Männlichkeit. Die Achiorepisode hat mit der Haupthandlung nichts zu tun. Welche Unmöglichkeiten damit verknüpft sind, ist schon gesagt worden. Ein Versuch, den Entschluß der Judith durch irgendwelche seelische Kämpfe zu motivieren, wird nicht gemacht, ist auch im vorgryphianischen Drama nicht zu erwarten. Eine Durchführung der Charaktere ist aber von einem halbwegs leidlichen Dramatiker zu verlangen. Bei der Unselbständigkeit Tschernings liegt der Gedanke nahe, daß auch dieses Werk in irgendwelcher Weise von älteren Dichtungen beeinflußt wurde. Dies läßt sich in der Tat bis zu einem gewissen Punkte nachweisen. Ein Vergleich mit dem berühmten lateinischen Drama gleichen Namens des Xistus Betuleius (Sixt. Birck. Straßburg 1539 u. 1559) zeigt, daß fast alle Tscherningischen Szenen hier vorgebildet sind.4) Diese Parallelität bezieht sich aber nur auf den Aufbau. Im einzelnen zeigen sich beträchtliche Abweichungen, wie ja überhaupt das schwache Werk des 17. Jahrhunderts einen Vergleich mit der lateinischen Dichtung des 16. Jahrhunderts nicht aushält. Auch die Namen der Personen sind ganz andere. Alles das macht es wahrscheinlich, daß ein direkter Einfluß des Birckschen Werkes nicht anzunehmen ist. Wohl aber ein indirekter. Zweifellos hat Bircks Werk auf das Schuldrama einen großen Einfluß gehabt, das den Judithstoff in immer neuen Variationen bearbeitete. Es ist nun sehr wahrscheinlich, daß Tscherning eine solche lateinische Unterlage zu seinem Werke benutzte, die im wesentlichen das Drama Bircks in verwässerter Form bot. So wird die Parallelität hinreichend erklärt.5) Zwei Tscherningische Szenen finden sich bei Birck nicht vorgebildet: I. 1. und II. 2. Die letztere erweist sich aber als eine wenig verbesserte Auflage von I. 3. Und I. 1. fällt stark aus dem Rahmen des Ganzen heraus. Nebukadnezar ist für die Handlung durchaus entbehrlich. Vielleicht ist hier der Schluß berechtigt, daß Tscherning durch die 1640 in Breslau aufgeführte Jesuitenkomödie „Nabuchodonosor" zu dieser Szene angeregt wurde. Hierdurch kam ein fremder Ton in das Werk hinein, so erklärt sich der Widerspruch in der Behandlung des Pagoa. Tscherning hat in keiner Weise erkannt, daß Opitz mit seiner „Judith" einen Singspieltext geschaffen hatte. Deshalb prägt er auch zuerst den Ausdruck „Schauspiel" im Personalverzeichnis. Tscherning kam vom Schuldrama, Opitz von der italienischen Oper. Daß unter solchen Umständen kein geschlossenes Ganze entstehen konnte, darf nicht Wunder nehmen. Der Unterschied zwischen der Opitzischen und Tscherningischen Dichtungsart läßt sich nicht deutlicher zeigen als bei der Behandlung der Chöre. Opitz verwendet fast in jeder Szene Chöre. Damit wußte Tscherning nichts anzufangen. Er verwendet nur einen einzigen (I. 2.) in zwei Akten. So ungleichartig sind die Bestandteile des Werkes. Ebenso wurde die innere Rhythmik der Opitzischen Dichtung von Tscherning nicht erkannt. Wie ich in meinen schon erwähnten „Beiträgen" gezeigt habe, herrscht in der „Judith" des Opitz ein ganz erstaunlicher Reichtum an metrischen Formen. Sie mußten also dem Komponisten jener Tage hochwillkommen sein. Denn dieser Wechsel der Metren ist nicht willkürlich, sondern durchdacht. Auch hier versagt Tscherning vollständig. Wohl hat auch er jambische Verse mit drei, vier, fünf Hebungen, wohl bringt auch er trochäische Verse, aber ganz willkürlich. Der Alexandriner kehrt nur zu häufig wieder, und seine meisten dreifüßigen Verse sind nur halbe, gereimte Alexandriner. Sein Reimschema ist eintönig abab oder abba. Nirgends ist der Versuch einer liedmäßigen Gestaltung gemacht. Die Verwendung der Trochäen ist ganz willkürlich, nicht wie bei Opitz, der sie an den Höhepunkten benutzt. Im Wortschatz zeigt sich wieder die Abhängigkeit von der Opitzischen Ausdrucksweise. Darauf deutet ja auch Tscher 8 Borcherdt, Tscherning. 113 |