Λ. IV. DER ORDENSGENERAL. DIE NEUE WELT, IHRE Durch seine Wahl zum Oberhaupte seines Ordens sah sich Delfin in eine neue Welt versetzt, in eine neue Umgebung und in einen neuen Kreis schwerer Aufgaben und Pflichten. Den Ordenssatzungen gemäß war der Prior der heiligen Einsiedelei zugleich der Obere aller ihr unterstellten Niederlassungen und Ordenshäuser; General des Camaldulenserordens konnte man also nur sein, sofern und solange man Prior der heiligen Einsiedelei war. Dieser hatte nun aber seinen Sitz naturgemäß in Camaldoli, strenge genommen in der Einsiedelei selbst, wo eine der bequemsten Zellen für ihn bereit stand1. Die Verwaltung einer halb Italien umfassenden Ordensgenossenschaft brachte jedoch notwendig einen Aufwand von Hilfskräften, eine Betriebsamkeit und einen Verkehr mit sich, die sich weder mit dem engen Raum der zur Verfügung stehenden Zelle noch mit der hier gebotenen, auf gemeinsamen Chordienst, einsame Betrachtung und ernstes Stillschweigen eingestellten Lebensordnung vereinbaren ließen. Längst hatte daher der Obere der heiligen Einsiedelei seinen Sitz in Camaldoli-Fontebuona aufgeschlagen; an seiner Stelle sorgte ein Vertrauensmann der Einsiedler, der von ihnen aus ihrer Mitte gewählte M a ior Eremi, für Aufrechterhaltung der heiligen Regel und Überlieferung2. Zwar hatte das Generalkapitel zu Volterra 1351 bestimmt, der General solle im Kloster S. Benedikt zu Arezzo wohnen3. Da aber diese Stadt selbst unter die Botmäßigkeit der mächtig aufblühenden Dantestadt geraten war und die politische und wirtschaftliche Abhängigkeit des Ordens von ihr immer fühlbarer wurde, so ergab sich eine zunehmende Annäherung der Ordensleitung an die politische und wirtschaftliche Hauptstadt von selbst. Ambros Traversari, der berühmteste aller camaldulensischen Ordensleiter, hielt sich, soweit ihn nicht seine Amtspflichten und kirchenpolitischen Aufgaben in die Ferne riefen, fast immer nur im florentinischen Engelkloster auf, und auch der 1478 verstorbene Ordensgeneral Mariotto ließ sich vom dauernden Aufenthalte in Camaldoli um seines kalten Klimas willen entbinden. Immerhin blieb aber Camaldoli - Fontebuona so sehr das Herz des Ordens, daß sich sein Oberer nicht ständig von ihm fernhalten konnte, wenn nicht die ganze Verwaltung aufs empfindlichste darunter leiden sollte. So vermochte sich auch Delfin der seiner neuen Würde anhaftenden Verbindlichkeit nicht zu entschlagen, in Camaldoli-Fontebuona seinen Hauptsitz zu nehmen, wo alle Fäden des Ordens zusammenliefen und alle Bücher und Schriften lagen, wo sich das Noviziat, die Schule für den jungen Nachwuchs, der ganze landwirtschaftliche Betrieb zum Unterhalte der heiligen Einsiedelei wie des Klosters befand. Die Übersiedelung von Venedig-Murano nach Camaldoli war für Delfin ein schweres Opfer. Er war und blieb bis zum letzten Lebenshauche Venezianer mit Leib und Seele. ,,Niemand mag anderswo leben, der in Venedig leben kann“, sagte er in Anlehnung an ein bekanntes ciceronisches Wort über Rom*. Er war stolz auf seine Vaterstadt und auf das Lob, welches ihr der berühmte Humanist Poggio, obschon selbst Florentiner, gespendet hatte. Sorgfältig sah er darauf, daß fremde Besucher durch einheimische Freunde mit ihren Hauptsehenswürdigkeiten, dem Arsenale, dem Schatze von S. Marco, den vornehmsten Kirchen, dem Canal Grande mit seinen herrlichen Palästen, bekannt gemacht würden; auch die glänzenden Schauläden der feinen Glaswaren sollten sie ansehen, überdies eines der großen Schiffe von innen besichtigen und zuletzt den Campanile besteigen, um einen Überblick über die unvergleichliche Stadt und das weite Meer zu gewinnen und auf diese Weise einen unvergeßlichen Eindruck mit nach Hause zu nehmen. Seit achtzehn Jahren hatte er in S. Michael auf Murano, dem lieblichen Eilande, mit seiner neuen prächtigen Kirche, mit seinen stattlichen Klostergebäuden und lachenden Gärten, einer Insel der Seligen vergleichbar, geweilt, als es zu scheiden galt. Das Heimweh verließ ihn nie; nie vermochte er sich in Camaldoli ganz einzugewöhnen und so recht heimisch zu werden.,,Wenn ich", so schrieb er hier nach achtjährigem Aufenthalte',,,meine gegenwärtige Lage bedenke, so kommt mir der Gegensatz zwischen der Stätte, aus der ich verstoßen bin, und dem Orte, wo ich jetzt in 63 der Verbannung weile, erst recht zum Bewußtsein. Aus dem irdi- HEIMWEH NACH VENEDIG nischen Camaldoli aber, welcher sich über einen im Kloster frei herumlaufenden Hirsch ärgerte, verwies er sein griesgrämiges Wesen, das, über beständigem Bücherabschreiben vertrocknet, alle Freude an Gottes Geschöpfen eingebüßt habe. Auch in anderen Klöstern könne man Hirsche antreffen; ehedem, als die heilige Einsiedelei noch nicht umzäunt war, hatten die Tiere des Waldes freien Zutritt zu ihr. Auch der Hirsch, das sanftmütigste aller Tiere, sei aus der Hand Gottes hervorgegangen und könne uns gleich allen anderen Werken Gottes nach des Apostels Wort (Röm. 1, 20) zur Erkenntnis des unsichtbaren göttlichen Wesens anleiten. Das Hohelied (2,9) vergleiche den Seelenbräutigam mit einem Reh und jungen Hirschlein; ein Hirsch, das Bildnis des Gekreuzigten zwischen den Hörnern, sei dem hl. Eustach erschienen, eine Hirschkuh habe den hl. Egid in der Wildnis mit seiner trauten Gesellschaft erquickt und mit seiner Milch genährt1. Mit sichtlicher Freude schilderte er die Giraffe, welche der ägyptische Sultan Abu Nasr Kaitbei 1487 nebst anderen seltenen Tieren dem florentinischen Staatslenker Lorenzo Magnifico übersandt hatte13. Das ganze Jahr über hielt es Delfin in Camaldoli aber nicht aus. Nur die heißen Sommermonate verbrachte er hier im kühlen Schatten würziger Baumriesen. Da er, wie er versicherte", an Seitenstechen litt, so mied er auf Anraten des Arztes während der übrigen Zeit des Jahres das ihm unzuträgliche Klima Camaldolis und nahm in einem seiner florentinischen Klöster Wohnung, gewöhnlich im Camaldoli15 oder auch in S. Benedikt, dessen herrliche Lage vor den Toren der Stadt er wiederholt rühmte1. Die milde und angenehme Luft von Florenz bekam ihm im Winter besser als Camaldoli, wo die ständige Ofenhitze im Verein mit seiner sitzenden Lebensweise seinen Magen angriff"; was hätte Delfin erst gesagt und geklagt, wenn er mit dem hl. Romuald in den fiebergeschwängerten Niederungen der Pomündung hätte siedeln müssen! Aber auch in Florenz fühlte er sich nie so recht wohl, da er hier von Besuchen allzusehr überlaufen war18. Verhältnismäßig am besten gefiel es ihm stets in ,,seiner“ Musolea1. ,,In Florenz," schrieb er20,,,habe ich vor den ewigen Besuchen keine Ruhe; in Camaldoli kann ich mit der lästigen Sorge um das Hauswesen und die Ordensangelegenheiten nie zu Atem kommen; nur in Musolea genieße ich Muße und Frieden und frische, gesunde Luft." Darum zog er sich in den heißen Sommermonaten gerne hierher zurück, um der drückenden Schwüle der staubigen Stadt zu entrinnen21. Weitaus am liebsten weilte er aber doch auch als General noch immer in S. Michael auf Murano. ,,Wenn mich auch", sagte er in hohem Greisenalter selbst21,,,mein Amt als Ordensgeneral zwang, einen guten Teil meines Lebens fern, vom väterlichen Boden zu verbringen, so bin ich doch nirgends so gern wie in Venedig." Hier war sein Herz, hierher schweiften unwillkürlich seine Gedanken, hierher schrieb er bei jeder Gelegenheit. Es war ein Festtag für ihn, wenn ein Brief aus S. Michael eintraf, und wie eine Erlösung, wenn er nach S. Michael reisen durfte, wo er ja auch mit Schmerzen und heißer Sehnsucht erwartet wurde. Er meinte sie vor sich zu haben, seine dortigen Mitbrüder und alten Freunde, wie sie Tag für Tag aus den Fenstern des Klosters nach ihm Ausschau hielten und spähten, ob er nicht komme, oder wie sie nach dem Wetter sahen und etwa sprachen:,,Heute ist ein schöner Tag, von Osten streicht ein günstiger Wind, da wird er wohl schon zu Schiff unterwegs sein und am Abende landen." Andere hinwiederum mochten seufzen: ,,Es wird ihm doch nichts zugestoßen sein? Oder hielten ihn seine Hausgenossen auf? Kam eine wichtige Angelegenheit dazwischen und verhinderte ihn an der Reise?" Selten verging ein Jahr, da er nicht nach S. Michael pilgerte. Als er dann aber zuletzt seinen Alterssitz hier gewählt hatte, zog es ihn doch wieder nach Toskana und nach ,,seiner" Musolea zurück. Gleichwohl entsprangen seine häufigen Reisen weniger seiner eigenen Liebhaberei als vielmehr seiner beruflichen Stellung. Kraft seines Amtes war er verpflichtet, alle Klöster seines Ordens Jahr für Jahr persönlich oder durch einen Stellvertreter zu visitieren". Er kam dieser Verpflichtung gewissenhaft nach und war daher sehr viel unterwegs. Seinem Freunde Barozzi, welcher ihn 1481 in Camaldoli aufgesucht hatte, klagte er sein bitteres Leid25, daß er, dem doch nichts über seine Ruhe gehe, fast immer auf der Fahrt nach verschiedenen Klöstern sein müsse, heute nach Toskana, morgen ins Flaminische, Picenische oder Venezianische, um allen Hilfsbedürftigen Genüge zu leisten, nur sich selbst am wenigsten. Wir Menschen des elektrischen und nachgerade des Luftverkehrs haben kaum mehr eine Ahnung von den Strapazen, die ein Mann wie Delfin, bis in sein höchstes 5 Schnitzer, Peter Delfin |